Oscar
mich erinnere, ist das zum ersten Mal bei Marion McCullough vorgekommen. Deren Sohn Jack hat Oscar oft in ihr Zimmer mitgenommen, weil er wusste, dass seine Mutter eine große Katzenfreundin war. Zuerst ist Oscar nie lange dageblieben, aber als Marion immer schwächer wurde, hat sich das geändert. An dem Tag, als sie starb, ist er schließlich ganz von selbst auf ihr Bett gesprungen und hat sich neben sie gelegt. Einige Tage später hat Jack mich angerufen und mir gesagt, Oscars Verhalten habe ihm sehr geholfen.«
»Weshalb?«
»Offenbar meinte er, es sei ein Zeichen, dass seine Mutter bald sterben wird.« Mary sah mich an. »Damals habe ich das bloß für eine nette Geschichte gehalten, ohne viel darüber nachzudenken. Aber vielleicht können Sie mal mit Jack darüber sprechen.«
»Mal sehen«, sagte ich. »Wie ging es denn weiter?«
»Ich glaube, was mich wirklich von Oscars Fähigkeiten überzeugt hat, war etwas, das einige Monate später geschehen ist. Inzwischen sprachen immer mehr Leute über Oscar, auch einige der Hospizschwestern. Als Ralph Reynolds – den haben Sie ja auch behandelt – im Sterben lag, haben wir alles getan, damit er nicht leiden musste. Irgendwann war eine Kollegin von Ihnen da, um ihn zu untersuchen. Als sie aus seinem Zimmer kam, meinte sie, es würde nun wohl nicht mehr lange dauern. Das hat eine der Helferinnen gehört und sich gleich auf die Suche nach Oscar gemacht.«
Mary machte eine Kunstpause. Offenbar genoss sie es, mir die Geschichte zu erzählen. »Einige Minuten später kam die Helferin wieder an. Sie hatte Oscar auf dem Arm, der nicht besonders glücklich aussah. Trotzdem hat sie ihn einfach auf Ralphs Bett gesetzt und uns erklärt, wenn jemand stirbt, müsste Oscar dabei sein. Der aber hat uns angeschaut, als wären wir nicht recht bei Trost, und ist sofort wieder aus dem Zimmer geflitzt. Wir haben ihn erst eine ganze Weile später unter dem Tisch hier entdeckt, wo er sich versteckt hatte.«
»Da hat es also mal nicht geklappt«, sagte ich.
»Abwarten! Tatsächlich hat Ralph noch eineinhalb Tage gelebt. Aber vier Stunden bevor er starb, haben wir gesehen, wie Oscar vor der geschlossenen Tür von Ralphs Zimmer hin und her lief. Er sah recht unglücklich aus. Als wir die Tür aufmachten, ist er sofort zum Bett gelaufen und hinaufgesprungen. Dort hat er sich neben Ralph gelegt und sich nicht mehr vom Fleck gerührt. Selbst als alles vorüber war, blieb er sitzen, und erst als der Mann vom Bestattungsinstitut kam, ist es uns gelungen, Oscar mit ein paar Leckereien wegzulocken.«
Ich schüttelte den Kopf, ohne recht zu wissen, ob ich das vor Verwunderung oder Zweifel tat. Mary beäugte meine Reaktion, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Na, David«, sagte sie, »es sieht ja ganz so aus, als würden Sie unseren speziellen Kater allmählich ernst nehmen.«
Ich hob die Arme in die Luft. »Ganz überzeugt bin ich noch nicht. Schließlich bin ich im Herzen Wissenschaftler.« Den Spruch konnte Mary zwar absolut nicht leiden, aber das war mir egal. »Man hat mir immer beigebracht, den Fakten leidenschaftslos entgegenzutreten, um sie zu analysieren, Thesen zu entwickeln und diese anschließend zu hinterfragen, bis sich das Ganze der Wahrheit angenähert hat. Das wissen Sie ja auch. Wenn man die Sache also von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, würde man die Vorstellung, dass ein Kater den Tod eines Patienten erahnen kann, einfach abtun. Es fällt viel leichter anzunehmen, dass er sich zu den betreffenden Patienten setzt, weil in deren Zimmer plötzlich mehr Aktivität herrscht, indem sich die Angehörigen versammeln, um dem Sterbenden die Hand zu halten und sich von ihm zu verabschieden. So etwas würde sich einfach logischer anhören. Oder man nimmt an, Oscar ist gern bei Sterbenden, weil die ihn in Ruhe lassen, und da Katzen sowieso den größten Teil des Tages schlafen, suchen sie immer ein gemütliches Plätzchen. Ein warmes Bett käme da gerade recht.«
Mary strahlte. Offenbar merkte sie, dass ich trotz meiner Einwände endlich bereit war, an Oscars Fähigkeiten zu glauben. »Aber Sie geben zu, dass das wahrscheinlich nicht die richtige Erklärung ist, ja?«
»Wenn man alle Indizien in Betracht zieht, sieht es auf jeden Fall so aus.«
»Wie wäre es, wenn Sie der Sache genauer auf den Grund gehen, ganz wissenschaftlich natürlich?«, sagte sie. »Ich finde, Sie sollten mit ein paar Angehörigen der Patienten sprechen, bei deren Tod Oscar
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