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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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gingen direkt ineinander über, so dass eine offene Atmosphäre entstand. Dazu trugen auch die modernen Möbel und die ausgefeilte Beleuchtung bei. Wo an den Wänden keine Buchregale standen, hingen Bilder.
    »In diesen Räumen wollte mein Mann gemeinsam mit mir seinen Lebensabend verbringen«, sagte Jeanne Ferretti, als sie mich an einem Winternachmittag durchs Haus führte. »Er hat sich hier sehr wohl gefühlt.«
    Sie ging voraus in die Küche, wo wir uns an den Tisch setzten.
    »Ich würde Ihnen gern etwas zeigen«, sagte sie und legte mir ein Ringbuch vor. »Mein Mann war ein sehr offener Mensch. Wir hatten nicht viele Geheimnisse voreinander, aber es gab eine Schublade, in der er seine Notizbücher verwahrte. Sie war seine Privatsache, und das habe ich respektiert. Erst ein halbes Jahr nach seinem Tod hatte ich die Kraft, hineinzuschauen.«
    Ich klappte das Ringbuch auf und betrachtete die erste Seite. Da stand:
    Lieber---
    --Gott
    --ich
    danke---
    dir----
    Ich war merkwürdig berührt.
    »Anfangs kommt es einem seltsam vor, dass jemand, der gerade alles verloren hat, so etwas schreiben konnte«, sagte Jeanne. Sie hatte sich ans Fenster gestellt. »Blättern Sie um!«
    Dort standen, ähnlich arrangiert, drei Worte:
    JEANNE
    Missy
    LieblING
    »So hat er mich früher immer genannt«, sagte Jeanne. Ihr eigentlicher Name und zwei Kosenamen.
    Als ich die nächste Seite aufschlug, fand ich dort die Tage der Woche, Montag bis Sonntag. Sie waren in Blockbuchstaben untereinander aufgelistet. Es war wie der Blick in die Fibel eines Grundschülers, aber dieses Buch enthielt die Elemente von Lino Ferrettis Leben, die er gegen die Krankheit verteidigt hatte. Auf einer anderen Seite hatte er zweimal das Alphabet notiert, zuerst in Druckbuchstaben und dann in Schreibschrift. Eine weitere Seite enthielt die Daten, die ihm wichtig waren, darunter sein Hochzeitstag, der Geburtstag seines Sohnes und drei Feiertage: der Unabhängigkeitstag, Thanksgiving und Weihnachten.
    Mit der nächsten Seite konnte ich zuerst nichts anfangen, aber dann sah ich, dass es sich um eine Art Spickzettel handelte, wie man ihn in der Schule verwendet. Hier hatte Lino die Antworten auf Fragen notiert, die häufig bei Gedächtnistests gestellt werden: Datum, Jahreszeit, Wochentag, die Namen des derzeitigen amerikanischen Präsidenten und des Gouverneurs von Rhode Island.
    »Er hat versucht, dagegen anzukämpfen«, sagte Jeanne nach einer kleinen Weile. »Erst als er tot war, ist mir klar geworden, wie sehr er sich angestrengt hat. Das hat er völlig vor mir verborgen.«
    Sie kam zu mir, warf einen Blick auf das Ringbuch und deutete auf den Spickzettel. »Dabei habe ich ihm allerdings geholfen«, sagte sie. »Er wusste, dass er zum Arzt muss, und hat darauf bestanden, dass wir miteinander diese Fragen durchgehen. An dem betreffenden Tag haben wir das dann tatsächlich stundenlang getan. Ich dachte, er hätte das Blatt weggeworfen.«
    Jeanne schüttelte den Kopf und lächelte. »Geholfen hat es allerdings nicht; die meisten Fragen hat er nämlich trotzdem nicht beantworten können. Er ist fast in Tränen ausgebrochen, als wir in der Praxis saßen und er alles, was wir so sorgfältig studiert hatten, nicht mehr wusste.«
    Als Fachmann, der solche Tests regelmäßig anwendete, war ich überrascht. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass jemand sich darauf vorbereitete und versuchte, das System auszutricksen.
    Jeanne nahm mir das Ringbuch aus der Hand und blätterte es durch, bis sie eine bestimmte Seite gefunden hatte.
    »Schauen Sie sich das mal an«, sagte sie und legte das Buch wieder vor mich.
    Die Seite stammte aus einem Musiklexikon. Sie enthielt detaillierte Beschreibungen verschiedener Instrumente: Trompete, Klavier, Saxophon, Posaune und so weiter. Auf der folgenden Seite befand sich eine schematische Darstellung sämtlicher Dur- und Mollakkorde. Ganz unten stand in Linos zittriger Handschrift das Datum: Januar 2003 . Mehr als drei Jahre bevor er starb und mindestens vier Jahre nach Beginn seiner Krankheit.
    »Musik war das Leben meines Mannes«, sagte Jeanne.

    Um einen Menschen wirklich beurteilen zu können, muss man seine ganze Geschichte kennen. Ercolino Ferretti, den seine Freunde nur Lino nannten, war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geboren worden, als Kind italienischer Eltern, die wie viele ihrer Landsleute in die Arbeitervorstädte im Norden Bostons gezogen waren. Sein Vater verdiente mühsam seinen Lebensunterhalt bei der

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