Oscar
Zimmer«, erzählte Annette weiter. »Sie hat gefragt, ob wir etwas dagegen haben, wenn die Tür offen steht. Wir haben erstaunt gefragt, warum. Da hat sie gesagt, Oscar sei draußen gewesen und hätte verzweifelt versucht hereinzukommen.«
»Und wo war er nun?«, fragte ich.
»Offenbar hatte er es satt gehabt, an der Tür zu hocken, und war ins Nebenzimmer gegangen. Dort hat er immer wieder an der Wand gekratzt, um uns mitzuteilen, dass er da ist und zu uns will.«
»Offenbar war er vorher eine ganze Weile vor der Tür auf und ab marschiert«, sagte Rita. »Tja, wir haben der Helferin also gesagt, sie kann die Tür gerne offen lassen, und tatsächlich hat es nicht lange gedauert, da kam Oscar hereingeflitzt und ist zu unserer Mutter aufs Bett gesprungen. Dort hat er sich mit den Pfoten eine Kuhle gemacht und uns zufrieden angeschaut. Dann hat er sich neben ihr niedergelassen, zu einer Kugel zusammengerollt und ist eingeschlafen.«
»Wir haben uns immer wieder verblüfft angeschaut«, erinnerte sich Annette, »weil wir das wirklich nicht erwartet hatten.«
»Und er ist dageblieben, bis sie starb?«
Rita hob den Zeigefinger. Es war offensichtlich, dass sie die Geschichte nicht zum ersten Mal erzählte. »Jetzt kommt das Beste, Dr.Dosa«, sagte sie. »Wenig später kam dieselbe Helferin wieder, um das Bettzeug zu wechseln. Dazu musste sie natürlich erst Oscar verscheuchen, aber als sie ans Bett trat, hat der sie nur angeschaut und sich nicht vom Fleck gerührt. Als sie versucht hat, ihn hochzunehmen, hat er gefaucht und mit der Pfote nach ihr geschlagen.«
Ich dachte an eine gewisse Begegnung mit Oscar und rieb mir unwillkürlich die Hand, die er fast gekratzt hatte.
»Und wer hat gewonnen?«, fragte ich grinsend, obwohl ich ahnte, wie es ausgegangen war.
»Oscar natürlich!«, sagte Rita. »Die Helferin hat schließlich aufgegeben. Oscar ist nicht von der Seite meiner Mutter gewichen, bis sie gestorben war. Genauer gesagt, ist er erst vom Bett gesprungen, als der Mann vom Bestattungsinstitut kam.«
»Und dann geschah noch etwas Merkwürdiges«, fuhr Annette fort. »Als man sie hinausgerollt hat, stand Oscar an der Tür, als wollte er sie verabschieden.«
»Wie eine Art Wachposten«, sagte ihre Schwester.
»Ja«, sagte Annette, »wie eine Wache.«
Da hatte ich gefürchtet, Rita und Annette würden sich weigern, noch einmal ins Heim zu kommen, und nun sah es fast so aus, als wollten sie nur ungern wieder gehen. Natürlich lag das einerseits daran, dass sie hier mit der Zeit so viele Freunde gewonnen hatten, aber andererseits war es wohl auch die Atmosphäre, die durch Oscar und die anderen Katzen entstanden war.
Als eine Brücke zwischen Mutter und Tochter hatte Mary die Rolle Oscars nach meinem Gespräch mit Donna Richards beschrieben, und das hatte sich nun bestätigt. Auf gewisse Weise trug seine Anwesenheit dazu bei, dass die Menschen, die in einer Extremsituation mit ihm zu tun hatten, ihre Angst verloren und ruhiger wurden.
Das ist noch heute so, und es ist wohl einer der Gründe, weshalb wir schon so lange Katzen bei uns im Heim haben. Die meisten Patienten mögen diese Tiere – entweder, weil sie dadurch an die lange vergessene Beziehung zu einem anderen Haustier erinnert werden, oder vielleicht auch nur, weil Tiere sich nicht ständig wertend verhalten wie wir Menschen. Einer Katze ist es egal, womit man seinen Lebensunterhalt verdient und ob man reich oder arm ist. Sie kümmert sich nicht darum, ob man sich an ihren Namen erinnern kann oder weiß, welches Ereignis die Nachrichtensendungen dominiert.
Auch was unsere Katzen für die Angehörigen unserer Patienten bedeuten, hatten wir schon erkannt, bevor Oscar mit seinen Besuchen begann. Sie stellen einen Ruhepol für Menschen dar, die unser Heim mit allerhand Ängsten betreten, was ja ganz natürlich ist. Für viele Besucher ist es ein ziemlich harscher Weckruf, zu erleben, wie die Realität eines Lebens als Pflegefall aussieht. Da freuen sie sich, wenn sie sich mit etwas Vertrautem trösten können, selbst wenn das nur eine Katze ist.
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Zweierlei eignet sich als Zuflucht vor den
Widrigkeiten des Lebens: Musik und Katzen.
Albert Schweitzer
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D as Haus der Ferrettis wäre es wert gewesen, als Bildstrecke in einer Architekturzeitschrift präsentiert zu werden. Auf einem der vielen Hügel von North Providence gelegen, war es nach Süden ausgerichtet. Durch große Fenster bot sich ein phantastischer Blick auf die Stadt. Die Räume
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