Oscar
Eisenbahn, während seine Mutter als Näherin in einer Fabrik arbeitete. Es war ein schweres Leben, so wie viele Einwandererfamilien es damals führten.
Im Lauf seiner siebenundachtzig Lebensjahre entkam Lino der Fabrikarbeit, indem er sein musikalisches Talent entfaltete. Mit Leichtigkeit erlernte er mehrere Instrumente. Nachdem er als Soldat im Zweiten Weltkrieg auf seine Leidenschaft verzichten musste, kehrte er nach seiner Entlassung wieder zu ihr zurück. Er besuchte das New England Conservatory of Music, eines der renommiertesten Konservatorien des Landes, wo manche seiner Lehrer ihn als einen der begabtesten Komponisten seiner Generation bezeichneten.
Lino erweiterte die Grenzen der Musik, indem er mit äußerst komplexen Kompositionen experimentierte. Da seine Stücke ein mehr als zweihundertköpfiges Orchester erforderten, ergaben sich praktische Probleme. Er brauchte ein neues System für seine Musik, das seinen unorthodoxen Kompositionen entsprach. Er fand es in der sich damals gerade entwickelnden Welt der Computer.
Obwohl Lino Ferretti nie sehr bekannt wurde, war er ein echter Pionier. Hätte er sich auf konventionelle Kompositionen beschränkt oder wäre er Orchesterdirigent geworden, wie ihm seine Lehrer geraten hatten, dann wäre er heute womöglich wesentlich berühmter. Stattdessen beschäftigte er sich schon mit Computern, als diese noch so groß waren, dass sie einen ganzen Raum ausfüllten. Er unterrichtete am Massachusetts Institute of Technology und gab Seminare auf der ganzen Welt, bei denen er seine Entdeckungen mit gleichgesinnten Neuerern diskutierte. Im Rückblick hatte Lino recht, was den Computer als musikalisches Medium angeht. Wer heute seinen PC anschaltet oder seinen iPod hört, ist sich bewusst, wie stark die Musik inzwischen digitalisiert ist. Nur wenige wissen jedoch, dass Linos Forschungen viel dazu beigetragen haben.
Ercolino Ferretti hatte einen neugierigen, beweglichen Geist, der es ihm erlaubte, mit der sich rasch verändernden Computerszene Schritt zu halten. Auch als er sich aus dem Universitätsleben zurückgezogen hatte, blieb er in seinem Spezialgebiet aktiv. Irgendwann im Jahr 2001 wusste er jedoch plötzlich nicht mehr weiter.
»Wie loggt man sich ein?«, fragte er seine verblüffte Frau eines Morgens. Mit einem Mal wurde ein Mensch, der daran gewöhnt war, erstaunlich komplexe Tätigkeiten zu verrichten, von einer simplen Aufgabe aus der Bahn geworfen. Bislang hatte er zwar manches vergessen und ein paar Termine versäumt, aber es war leicht gewesen, das nicht weiter zu beachten.
»Er ist einfach erschöpft«, hatte seine Frau immer entschuldigend gesagt. »Schließlich hat er so viel im Kopf.« Der Morgen aber, an dem er seinen Computer nicht mehr in Gang bringen konnte, war für Jeanne der Anfang vom Ende. Sie bekam Angst und sorgte sofort dafür, dass ihr Mann in ärztliche Behandlung kam.
Als Lino einige Jahre nach der ersten Diagnose in meine Praxis kam, war er immer noch in der Lage, ein Gespräch zu führen und zu Hause alleine zurechtzukommen. Zwei Jahre später war er bereits rund um die Uhr pflegebedürftig. Sein letztes Jahr verbrachte er bei uns im Heim, unermüdlich begleitet von seiner Frau.
»Für seine Grabrede habe ich aufgeschrieben, dass die Musik seine Liebe, sein Leben und seine Leidenschaft war.« Jeanne zeigte auf die Seite mit der Beschreibung wohlbekannter Musikinstrumente. »Das hat die Krankheit ihm angetan. Zu sehen, wie sein Intellekt und seine Kreativität langsam zerfielen, zu sehen, wie es so weit kam … das war am schwersten auszuhalten.Ich möchte Ihnen etwas vorspielen«, sagte sie dann und ging durch den offenen Durchgang ins Wohnzimmer nebenan, wo die Stereoanlage stand. Die Klänge eines Jazzquartetts erfüllten die Luft.
»Mein Mann war ein großer Jazzfan«, sagte sie mitten in ein Saxophonsolo hinein. »Das war eine seiner Lieblingsplatten. Selbst als seine Krankheit schon weit fortgeschritten war, hat er seine Liebe zur Musik nicht verloren.«
Während wir schweigend den vier Musikern lauschten, deren Töne sich ineinanderwoben, kam mir in den Sinn, wie viele Patienten mit Demenz ich schon betreut hatte. Dann dachte ich an meine kleine Tochter, die kaum sechs Monate alt war. Musik hat offenbar etwas an sich, das uns angeboren ist, und das ist immun gegen die Wirkung altersbedingter Erkrankungen. Viele junge Eltern wissen, dass Musik manchmal das einzige Mittel ist, um ein schreiendes Kind zu beruhigen. Deshalb haben
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