Oscar
Wie wenn er buchstäblich Wache halten würde.«
Ich stellte mir vor, wie Oscar gerade irgendwo schlief, vielleicht in einem Regal oder unter einem Bett. »Haben Sie inzwischen irgendeine Vermutung, was da geschieht?«, fragte ich. »Wieso verhält er sich so?«
»Ich dachte, das wollten Sie herausbekommen! Sie sind doch dabei, die Angehörigen zu interviewen.«
»Schon, aber das reicht nicht. Deshalb würde es mich interessieren, was Sie davon halten.«
Mary lehnte sich zurück, um einen Augenblick zu überlegen. »Also, da muss ich erst mal sagen, dass ich Oscar von all unseren Katzen ganz besonders mag. Er hat mich sofort akzeptiert. Wahrscheinlich nicht ganz ohne Grund – zum Beispiel setze ich ihm jeden Morgen frisches, kühles Wasser vor.«
»Mensch, sind diese Viecher verwöhnt! Mir bringt niemand frisches, kühles Wasser.«
Mary grinste, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Falls Sie auch irgendwann mal ein Haustier hatten, dann wissen Sie, dass es sich normalerweise besonders zu dem Mitglied der Familie hingezogen fühlt, dem es gerade nicht so gut geht.«
Tatsächlich fiel mir Jolly ein, unser schwarzer Zwergpudel, der mir in meiner Kindheit Gesellschaft geleistet hatte, wenn ich krank war.
»Stimmt«, sagte ich. »Aber das ist etwas anderes. Der Hund, den wir hatten, gehörte zur Familie.«
»Ja, was meinen Sie denn, wie es hier bei uns ist?«, sagte Mary. »Dies ist Oscars Zuhause. Er hat einundvierzig Familienmitglieder, und wenn eines von ihnen Probleme hat, geht er hin und bleibt bei ihm.«
Ich schwieg eine Weile, während ich mir überlegte, dass ein einziger Kater sich um alle einundvierzig Patienten auf der Etage kümmerte. Kein Wunder, wenn er da manchmal erschöpft war.
»Übrigens, mit wem wollen Sie sich noch über ihn unterhalten?«, fragte Mary.
»Ich weiß nicht recht. Bestimmt gibt es noch eine ganze Anzahl Leute, die in Frage kommen. Da Sie gerade Larry Scheer erwähnt haben, fällt mir dessen Frau ein. Außerdem habe ich versucht, Jack McCullough zu erreichen, und …«
Das Tuten der Sprechanlage auf dem Tisch unterbrach mich mitten im Satz. Mary beugte sich vor und drückte auf die Taste. »Ja, bitte?«, fragte sie.
»Mary, es ist dringend. Können Sie nach meiner Frau schauen?« Das war unverkennbar die Stimme von Frank Rubenstein.
Damit war unser Gespräch beendet.
»Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen«, sagte Mary und ging eilig davon.
Ich nahm die Akte von Ruth Rubenstein aus dem Regal. Ruth war vor kurzem aus der Klinik zurückgekehrt, wo sie eine Woche lang wegen ihrer Lungenentzündung behandelt worden war. Die Infektion war dort rasch zurückgegangen, aber die veränderte Umgebung hatte sie so sehr verwirrt, dass sie phantasierte. Außerdem aß sie nichts mehr und brauchte starke Medikamente, um ruhig zu bleiben. Als das nichts mehr nützte, musste ständig jemand im Zimmer sein, damit sie nicht mitten in der Nacht aufstand und sich verletzte.
Während ich die von der Klinik geschickten Unterlagen durchsah, nahm ich eine Bewegung wahr. Ich war nicht mehr allein. Oscar war wie aus dem Nichts aufgetaucht, hockte neben mir auf dem Boden und sah mich mürrisch an.
»Was ist denn?«, sagte ich. »Sitze ich etwa wieder mal auf deinem Platz?«
Er miaute, erst leise, dann immer lauter.
»Sie sind ihm im Weg!«, rief Mary, die aus Ruth Rubensteins Zimmer zurückkam. Sie deutete auf die Wasserschale unter dem Tisch. »Ihre Füße stehen direkt neben seinem Getränkeautomaten.«
»Verzeihung, Euer Hoheit«, sagte ich und stand auf. Argwöhnisch blickend, wartete Oscar ab, bis ich mich zwei Schritte weit entfernt hatte, bevor er zur Schale ging und trank.
»Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, sagte ich.
»Es ist sein Tisch, David. Freuen Sie sich einfach, dass er Sie ab und zu daran arbeiten lässt.«
Darauf verbot sich jeder Kommentar.
»Frank will Sie sprechen«, fuhr Mary fort. Ich sah sie fragend an.
»Ruth ist seit ihrer Rückkehr zu verwirrt, um etwas zu essen. Wir haben uns zu ihr gesetzt, damit sie Gesellschaft hat, aber sie verweigert jeden Bissen. Deshalb war Frank heute Vormittag schon mindestens ein halbes Dutzend Mal hier und hat gefragt, wie er sie zum Essen bringen kann. Das letzte Mal habe ich ihm gesagt, sie würde dann etwas essen, wenn sie dazu
bereit
ist. Um ihn zu beruhigen, habe ich außerdem erwähnt, dass sie ja noch eine Infusion bekommt, was ihren Zustand unterstützen wird.«
»Wie hat er darauf reagiert?«
»Er hat mir fast den Kopf
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