Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
Vom Netzwerk:
vermisse ich nicht. Es war, als würde man ein Kind beobachten, das alles verlernt, statt etwas Neues zu lernen.«
    Bei diesen Worten fiel mir mein Gespräch mit Joan und Robin Scheer ein, die sich ähnlich ausgedrückt hatten. Auch für sie war das, was sie miterlebt hatten, wohl wie ein rückwärts laufender Film gewesen, in dem die Hauptperson älter statt jünger geworden war.
    Als ich Jack bat, seine Erfahrungen zusammenzufassen, dachte er eine Zeit lang nach.
    »Man muss lernen, Zuneigung zu der Person zu fassen, zu der ein solcher Menschen durch seine Krankheit geworden ist«, erwiderte er schließlich. »Und man muss sich an den kleinen Dingen freuen können. Deshalb sind die Tiere bei Ihnen im Heim auch so wichtig. Wenn jemand Demenz hat, ist es am wichtigsten, dafür zu sorgen, dass er sich wohl fühlt und dass er von seinem Zustand abgelenkt wird. Ich hatte immer ein gutes Gefühl dabei, meine Mutter und meine Tante bei Ihnen zu lassen, weil sie dort gut gepflegt wurden und weil sie ihre Katzen hatten.«
    An der Tür stehend, schüttelten wir uns die Hand. Dabei fiel Jack noch etwas ein.
    »Wissen Sie, Oscar hat nicht nur meiner Mutter geholfen«, sagte er. »Ich hatte ihn auch ins Herz geschlossen.«

[home]
    Mir läuft immer ein Schauer über den Rücken,
wenn eine Katze etwas sieht, was ich nicht sehen kann.
    Eleanor Farjeon
    18
    W ieder hatte ich nach Antworten gesucht und nur weitere Fragen gefunden. Immerhin verschafften mir diese Gespräche neue Einblicke in die Krankheit, von der ein großer Teil meiner Patienten betroffen war und unter der ihre Angehörigen ebenso, wenn auch auf andere Weise, litten wie sie. Dadurch konnte ich mich besser in diese Menschen einfühlen. Ich dachte an Mary, die mich zu meinen Nachforschungen angeregt hatte, und überlegte, warum sie sich so gut für ihren Beruf eignete. Bestimmt waren ihre Fürsorglichkeit und ihr Mitgefühl ein Teil ihres Wesens, aber sie hatte auch viel durchgemacht.
    Als einstige Schönheitskönigin – sie war einmal Miss Rhode Island gewesen – hatte sie den Mann ihrer Träume geheiratet, um später festzustellen, dass er gewalttätig war. Er misshandelte sie regelmäßig. Als sie ihn bei der Polizei anzeigte, brachte er sich zur Vergeltung um.
    Nachdem sie das überstanden und ihre beiden Kinder aufgezogen hatte, war sie eine zähe, selbstbewusste Frau geworden, die immer nur das Positive im Blick hatte. Darüber hinaus war man bei ihr nie vor Überraschungen sicher. Als sie mir einmal das Haus zeigte, in dem früher die Talking Heads geprobt hatten, bemerkte sie nebenbei: »Damals bin ich übrigens eine Weile mit David Byrne ausgegangen.«
    Ausgerechnet mit dem Bandleader. Aber das war kein Wunder.
    Als ich am Tag nach dem Besuch bei Jack McCullough zum Stationszimmer kam, war Marys Miene allerdings ungewöhnlich düster. Für das geplante Gespräch über Oscar war jetzt sichtlich nicht der richtige Zeitpunkt.
    »Was ist denn los?«, fragte ich.
    »Nichts Besonderes, David«, sagte sie, ins Leere blickend. »Es ist einfach kein guter Tag.«
    Ich schwieg, blieb jedoch bei ihr stehen und betrachtete sie. Nach einer Weile schüttete sie mir schließlich doch ihr Herz aus.
    »Tja, wir haben gerade erfahren, dass der Staat Rhode Island uns in seiner grenzenlosen Weisheit dieses Jahr nicht dieselben Geldmittel pro Patient zur Verfügung stellt wie bisher. Deshalb hat die Verwaltung mit weiteren Kürzungen gedroht.«
    Jedes Jahr war es dasselbe. Der Staat verlangte von uns, mit immer weniger Geld immer mehr zu leisten. Angesichts der Wirtschaftskrise waren Pflegeheime ein leichtes Opfer der Bürokraten, die versuchten, an jeder nur möglichen Stelle Kürzungen vorzunehmen. Schließlich war nicht zu erwarten, dass die Patienten dieser Heime auf die Straße gingen, um lautstark dagegen zu protestieren.
    Die üble Neuigkeit, die ich erfahren hatte, traf mich wie ein Schlag. Ich ließ mich auf einen Stuhl plumpsen. Mary war sichtlich aufgebracht. Sie war Perfektionistin, und dass aufgrund dieser Entscheidung womöglich Personal entlassen werden musste, was die Qualität der Pflege beeinträchtigen würde, ging ihr entschieden gegen den Strich.
    »Na, lassen wir das«, sagte sie und zwang sich zu einem gequälten Lächeln. »Wen haben Sie heute auf Ihrer Liste?«
    »Ich wollte zu Ruth Rubenstein. Wie ist ihr Zustand?«
    »Erstaunlicherweise wesentlich besser. Das Delirium hat sich abgeschwächt, und sie isst wieder. Ich habe vorher sogar gesehen, wie ihr

Weitere Kostenlose Bücher