Oscar
allerdings nicht sehr angenehm, denn erst kam meine Mutter in ein anderes Heim, wo es nicht gut gelaufen ist.«
Das war offenkundig wieder eine lange Geschichte, auf die Jack allerdings nicht einging.
»Ich war so froh, als ich sie endlich bei Ihnen untergebracht hatte«, fuhr er fort. »Meine Tante Barbara war inzwischen auch an Demenz erkrankt und wohnte bereits dort auf der zweiten Etage. Ich habe erreicht, dass die beiden ins selbe Zimmer kamen. Wissen Sie, meine Mutter und ihre Schwester haben fast siebzig Jahre lang zusammengelebt. Dann waren sie etwa zehn Jahre getrennt, aber als sie im Heim wieder zusammenkamen, haben sie sich sofort gut verstanden.«
»Das hat man mir schon erzählt«, sagte ich.
»Meine Tante war übrigens genauso tierlieb wie meine Mutter«, sagte Jack und lachte. »Bestimmt dachten die beiden, die Katzen auf der Etage würden ihnen ganz alleine gehören. Wenn ich zu Besuch kam, saß meine Mutter meistens in ihrem Zimmer, während Barbara unterwegs war. Wenn ich sie suchen ging, fand ich sie irgendwo anders, mit einer Katze auf dem Schoß. Dann hat sie mich angestrahlt und gesagt, ihr Kuscheltierchen wäre wieder da.«
»Und Ihre Mutter?«
»Ach, bei der war es eigentlich dasselbe. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie würde mich nicht wiedererkennen, aber wenn eine der Katzen im Zimmer war, hat ihre Miene sich immer aufgehellt. Besonders, wenn sie im Bett lag und ich ihr das Tier auf die Decke setzte.«
Bijou war wieder hereingekommen und strich um Jacks Sessel.
»Sie wissen ja, wie es bei Demenz ist – am Ende hatten meine Mutter und meine Tante fast alles vergessen. Sie konnten sich nicht mehr an meinen Namen erinnern, sie wussten nicht, wo sie waren, ja nicht einmal,
wer
sie waren. Aber diese Gefühlsregungen, die sind geblieben. Das war nicht nur bei den Katzen so, sondern auch, wenn mal ein kleines Kind mit seiner Mutter zu Besuch war oder wenn im Radio eine bestimmte Melodie erklang. Bis fast zum Ende haben sie darauf freudig reagiert.«
»Wie war das überhaupt am Ende?«, fragte ich. »War Oscar da?«
»Als meine Tante starb, war ich leider nicht dabei, aber man hat mir erzählt, dass er ein paar Stunden vorher tatsächlich gekommen und geblieben ist. Wie es bei meiner Mutter war, weiß ich natürlich.«
»Da war er noch recht klein, nicht wahr?«
»Das stimmt. Schon vorher habe ich ihn manchmal draußen hochgenommen, ins Zimmer gebracht und zu meiner Mutter aufs Bett gesetzt. Da ist er allerdings bloß eine oder zwei Minuten geblieben und hat sich dann davongemacht. Sie wissen ja, wie junge Katzen sich verhalten.«
Eigentlich wusste ich das nicht.
»In der letzten Woche, als meine Mutter schon nicht mehr bei Bewusstsein war, kam er dann von selbst ins Zimmer, hat sich umgeschaut und ist eventuell kurz aufs Bett gesprungen, bevor er wieder verschwunden ist. Am Abend, bevor meine Mutter starb, saß ich mit meinem Partner zu Hause, als eine Schwester anrief. Es sehe nicht gut aus, hat sie gesagt, und ich solle kommen. Als wir ins Zimmer kamen, hatte man das Licht gedämpft und eine Duftlampe aufgestellt. Ich trat ans Bett, und da lag Oscar, an meine Mutter geschmiegt. Als ich mich auf die Bettkante setzte, hat er sich nicht vom Fleck gerührt. Er schnurrte.«
Das Staunen über diesen Augenblick war Jack noch immer anzusehen. »Als ich ihn da auf dem Bett sah«, fuhr er fort, »habe ich meinen Partner angeschaut und ihm gesagt, jetzt dürften wir nicht mehr weggehen. Er kannte meine Mutter gut und wusste, welche besondere Beziehung sie zu Katzen hatte. Zwei Stunden später hat sie den letzten Atemzug getan. Bis dahin hatte Oscar beharrlich neben ihr gelegen, aber sobald es vorbei war, ist er einfach aufgestanden, als wäre nichts geschehen, und aus dem Zimmer marschiert.«
Schweigend saßen wir eine kleine Weile da. Die Szene, die Jack beschrieben hatte, stand mir deutlich vor Augen.
»Bestimmt hätte meine Mutter sich gefreut, wenn sie gewusst hätte, dass eine Katze bei ihr war. Und was mich angeht – um die Wahrheit zu sagen, habe ich nichts gespürt außer Erleichterung. Normalerweise würde man denken, wenn die eigene Mutter stirbt, ist man am Boden zerstört, aber das war nicht der Fall. Deshalb hat wohl auch die Tochter von Ronald Reagan das Buch über die Alzheimer-Krankheit ihres Vaters
The Long Goodbye
genannt. Noch heute vermisse ich die Mutter, die ich früher, vor ihrer Krankheit, hatte, aber die Person, zu der sie in ihren letzten Jahren wurde,
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