Oscar
Mann sie den Flur entlanggeführt hat. Hat richtig süß ausgesehen, wie die beiden sich an der Hand gehalten haben.«
Bei der Erinnerung daran hellte Marys Miene sich auf, aber nur kurz. Sie runzelte die Stirn. »Waren Sie in letzter Zeit bei Saul?«, fragte sie leise.
»Seit er in der Klinik ist, nicht«, erwiderte ich. Dort war er nun schon mehrere Wochen, und wie wir beide wussten, hatte sein Zustand sich ständig verschlechtert.
»Seine Tochter hat heute angerufen«, sagte Mary. »Sie klang ziemlich verzweifelt. Offenbar ist er jetzt auf der Intensivstation, und das ist kein gutes Zeichen.«
Das überraschte mich nicht. Schon als man ihn in die Klinik transportiert hatte, war er dem Tod nahe gewesen, und deshalb hatte ich da schon gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war. Ich blickte den Flur entlang in Richtung seines Zimmers.
»Ich wünschte …«, setzte ich an, verstummte dann aber. Eigentlich wusste ich nicht mehr recht, was ich mir wünschte. Saul hatte zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens ziemlich klar geäußert, was er wollte – es sollte alles für ihn getan werden. Inzwischen hatte seine Lage sich allerdings entscheidend geändert. Irgendwo im Hinterkopf haben wir wohl alle eine Vorstellung, wie wir sterben möchten, und ich war ziemlich sicher, dass Sauls Vorstellung nicht mit seinem derzeitigen Zustand übereinstimmte. Aber darauf kam es nicht mehr an. Die Entscheidung war gefallen.
»Ich weiß schon«, sagte Mary. »Sie würden sich wünschen, dass man ihn hier bei uns in der Hospizpflege gelassen hätte, wo er Oscar bei sich haben kann.«
Ich hob die Augenbrauen. »Mit Oscar hat das weniger zu tun als damit, was das Personal hier für ihn tun könnte. Und wenn ich in Sauls Zustand wäre, dann wäre ich auf jeden Fall lieber hier. Mit oder ohne Kater!«
Dass Oscar ins Spiel gekommen war, munterte Mary endlich auf. »Da fällt mir etwas ein«, sagte sie. »Wie wär’s, wenn Sie mal einen Blick in Sauls Zimmer werfen?«
Ich zögerte, weil ich nicht recht wusste, was das sollte. Saul war nicht da, aber offenbar hatte Mary etwas Bestimmtes im Sinn.
»Los, machen Sie schon!«, drängte sie mich.
Gehorsam ging ich den Flur entlang. Unterwegs traf ich auf Ruth und Frank Rubenstein, die Hand in Hand spazieren gingen. Als ich sie begrüßte, reagierte Ruth mit einem warmen Lächeln.
»Sie sehen schon viel besser aus, Mrs.Rubenstein«, sagte ich. Das löste ein gewisses Wiedererkennen aus, aber da nicht zu erwarten war, dass sie etwas erwiderte, fragte ich ihren Mann: »Isst sie wieder etwas?«
Frank strahlte übers ganze Gesicht. »Aber ja!«, sagte er. »Und zwar, als ob sie gerade einen Hungerstreik beendet hätte!« Damit schüttelte er mir kräftig die Hand.
Unwillkürlich musste ich lächeln. Auch wenn es nur ein vorübergehender Erfolg war, freute ich mich dennoch für die beiden.
Als ich die Tür zu Sauls Zimmer öffnete, war es drinnen dunkel. Seine Kleidungsstücke lagen säuberlich für seine eventuelle Rückkehr bereit. Auch sein Bett war sorgfältig gemacht; das Deckbett war bis übers Kissen gezogen. Plötzlich sah ich eine Bewegung und erkannte im schwachen Licht, das vom Gang hereinfiel, eine kleine Gestalt auf dem Bett. Es war Oscar, der seine Wache auch ohne den Patienten angetreten hatte.
Auf dem Weg zur Klinik dachte ich über Barbaras Entscheidung nach, ihren Vater um jeden Preis am Leben zu erhalten. Konnte ich mich da überhaupt als Richter aufspielen? Nein, denn dafür war die endgültige Entscheidung, einen geliebten Menschen gehen zu lassen, einfach zu schwierig. Vielleicht war es sogar ein wenig unfair, einem Familienmitglied so etwas aufzubürden. Ja, Saul hatte darauf bestanden, dass alles für ihn getan werden sollte – damals, als er noch auf etwas bestehen konnte und noch wusste, wer er war. Das war sein gutes Recht gewesen, dachte ich, während ich den Aufzug der Klinik betrat, aber ich wusste, ich hätte mich für den Kater entschieden.
Auf einer Intensivstation existiert kaum etwas, das man Privatsphäre nennen könnte. Die Türen der Zimmer stehen fast immer weit offen, damit das Personal die Patienten besser überwachen kann. Heutzutage ist die Mehrzahl der Betten mit älteren, meist über achtzigjährigen Menschen belegt.
In Zimmer 19 lag eine gebrechliche, graue Gestalt schlafend im Bett. Ihr Körper war mit einer blauen Heizdecke bedeckt, die mich merkwürdigerweise an das Schaumstoffbrett erinnerte, mit dem mein Sohn im Schwimmbad
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