Osiris Ritual
Moment wurde ihm bewusst, dass jemand neben ihm
stand und ihn beim Namen rief. Er drehte sich um. Es war Mrs. Bradshaw, die die
Hände in die Hüften gestemmt hatte. Irgendwie war ihm bewusst, dass sie schon
eine ganze Weile dort stand. »Guten Morgen, Sir Maurice. Möchten Sie heute
Morgen frühstücken?«, fragte sie ihn mit ihrem
reizenden schottischen Akzent, als er sie endlich wahrgenommen hatte. Sie
betrachtete ihn von oben bis unten. »Was haben Sie nur getan, dass Ihr Anzug
sich in einem solchen Zustand befindet?« Sie sagte es
mit dem Ãberdruss eines Menschen, der sich an die bizarren Launen seines
Arbeitgebers gewöhnt hat, und rechnete nicht mit einer Antwort. Sofern sie um
seine Gesundheit besorgt war, lieà sie es sich nicht anmerken.
Newbury machte eine Bestandsaufnahme. Er lümmelte in einem
Ledersessel und trug den Anzug vom Vortag, der an den Knien aufgerissen und
voller Schmutz war, nachdem er sich in Gassen, auf Fabrikdächern und in einer
Untergrundstation herumgetrieben hatte. Die Ellenbogen waren abgestoÃen, die
Jacke war vorne von einem Schwerthieb aufgeschlitzt. Er hatte sich nicht einmal
gewaschen, das verkrustete Blut und das Ãl zierten immer noch sein Gesicht. Er
musste seiner Haushälterin einen schönen Anblick bieten.
Eine schwere Last drückte ihm auf die Brust. Er hob den Kopf und
bemerkte das Buch, das dort lag. Es war Meyers Abhandlung
über den Futurismus . Auf dem Tischchen neben seinem Sessel stand ein
halb geleertes Glas Rotwein, den er natürlich mit Laudanum versetzt hatte.
Seufzend betrachtete Newbury die undurchdringliche Miene seiner Haushälterin. »Wie
spät ist es denn, Mrs. Bradshaw?«
Sie blickte zur Uhr auf dem Kamin. »Zeit fürs Frühstück, würde ich
sagen, Sir.«
Newbury lächelte. »Nun gut. Ich gehe rasch in mein Zimmer und richte
mich einigermaÃen wieder her. Vielen Dank, Mrs. Bradshaw. Wahrscheinlich hätte
ich den ganzen Tag geschlafen, wenn Sie mich nicht geweckt hätten.«
Die Haushälterin lächelte und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
Newbury lauschte auf ihre Schritte, als sie die Treppe zur Küche hinabging. Er
drückte sich aus dem Stuhl hoch, um sich zu waschen und anzukleiden. Nachdem er
mehrere Stunden in einer nicht gerade bequemen Stellung gelegen hatte, krachten
ihm die Knochen.
Als er gereinigt war und die Verletzungen versorgt hatte, die
zahlreicher waren als erwartet, nahm Newbury Mrs. Bradshaws ausgezeichnetes
Frühstück zu sich und machte sich auf den Weg, um Miss Hobbes im Museum zu
treffen, wie sie es am vergangenen Abend verabredet hatten.
Unterwegs in der Droschke lieà Newbury noch einmal die Ereignisse im
Theater Revue passieren. Nachdem sie festgestellt hatten, dass es Knox
irgendwie gelungen war, sich zu befreien und aus dem Theater zu ï¬iehen, hatte
Newbury seine Assistentin zu ihrer Wohnung in Kensington begleitet. Dort hatte
er sie über seine Erkenntnisse über Ashford informiert und darauf bestanden,
dass sie sich an diesem Abend ausruhte. Sie konnten sowieso nicht viel tun, und
da sie nicht wussten, was Knox im Schilde führte, konnten sie auch keine
MutmaÃungen anstellen, wohin er sich wenden würde.
Klar war nur, dass Knox den Schlüssel für das Osirisritual gesucht
hatte. Winthrops und Blakes Ermordung hatten für Knox keine besondere Bedeutung
gehabt. Er hatte sie einfach nur umgebracht, weil sie ihm im Weg gewesen waren,
und dabei war es ihm egal gewesen, dass er ihnen die Entdeckung der Artefakte
zu verdanken hatte, die er begehrte. So viel war offensichtlich. Knox hatte
anscheinend einiges über das Wesen des Osirisrituals in Erfahrung gebracht â
wahrscheinlich aus dem Material, das Renwick Newbury gezeigt hatte â und eine
Weile mit den verschleppten Frauen experimentiert. Die Frauen waren jedoch
schon Wochen, wenn nicht Monate vor Winthrops Tod verschwunden. Newbury nahm
an, dass sie für das Ritual eine entscheidende Rolle spielten. Die Sekrete oder
Hormone, die Knox aus ihren Gehirnen extrahiert hatte, waren eine wichtige Zutat.
Nun besaà Knox die Dokumente aus den Uschebti-Figuren, die wahrscheinlich den
Schlüssel darstellten, die letzten Instruktionen, die zur Durchführung des
Rituals noch gefehlt hatten. Natürlich waren das alles nur MutmaÃungen, doch
sie passten zu den bekannten Tatsachen. Knox hatte von Khemosiris Ritual
erfahren und versucht, es
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