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Ostfriesenblut

Ostfriesenblut

Titel: Ostfriesenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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die Schuld zu geben. Auch wenn es ungerecht war. Gerechtigkeit übte sie im beruflichen Alltag genug.
    Sie überlegte, wie das mit ihren Eltern war. Hielt sie auch keinen Kontakt zu denen? Wartete ihre Mutter auch wochenlang auf einen Anruf? Nein, wochenlang sicherlich nicht. Mindestens einmal pro Woche meldete sie sich bei ihrer Mutter.
    An ihren Vater dachte sie ständig. Als er noch lebte, hatte sie nicht erkannt, wie wichtig er für sie war. Seit seiner Ermordung dominierte er manchmal ihr Leben. Sie kümmerte sich nicht um
sein Grab, aber sie hielt ständig Zwiesprache mit ihm. Immer wieder, wenn sie vor schwierigen Situationen stand, fragte sie sich: Wie würde er handeln? Manchmal hörte sie dabei seine Stimme oder roch seinen Atem.
    Ihm zu Ehren lag noch immer eine Flasche Doornkaat im Eisfach. Daneben zwei Gläser, obwohl sie den Schnaps doch immer alleine trank. Genau wie er damals.
    Ann Kathrin Klaasen drückte die Kurzwahltaste für Eike. Es klingelte. Immerhin. Zumindest war der Akku von ihrem Sohn wieder aufgeladen.
    Eike hob schon nach dem zweiten Klingelton ab. »Ja, Mama, was ist denn?«
    Sein Ton ließ kein Missverständnis aufkommen. Sie störte ihn bei irgendetwas. Wahrscheinlich musste sie froh sein, dass er sich überhaupt meldete und nicht einfach das Handy ausschaltete, wenn
Mam
auf dem Display erschien.
    Zwischen ihnen entstand ein kurzes Schweigen, das sie als peinlich empfand.
    »Ich wollte nur mal deine Stimme hören«, sagte sie. Es hörte sich an wie eine Entschuldigung.
    Er antwortete so genervt wie möglich: »Wir lernen gerade. Ich schreib morgen eine wichtige Arbeit.«
    Die fürsorgliche Mutter in ihr wollte natürlich wissen, in welchem Fach und mit wem er büffelte, aber die Kriminalistin in ihr ahnte, dass sein Lerneifer nur eine schnelle Ausrede war, um sie loszuwerden. Wahrscheinlich waren ein paar Kumpels zu Besuch, und sie hatten Wichtigeres zu tun – ja, was eigentlich? Sie wusste nicht mal mehr, wofür Eike sich interessierte. Hatte er eine Freundin? Ging es schon mit der ersten Liebe los?
    Sie blieb freundlich, bemühte sich, ihn ihre Enttäuschung nicht spüren zu lassen, und sagte: »Na, dann ruf ich lieber später nochmal an. Und alles Gute – ich drück dir die Daumen.«
    Das Gespräch hatte ihr nicht gutgetan. Es hinterließ einen
Druck auf der Brust. Und sie, die immer von Terminen gejagt wurde und oft mit dem Gefühl durch den Tag hetzte, ohnehin nicht alles schaffen zu können, wusste plötzlich nichts mehr mit sich anzufangen.
    Sie trank ein Glas Mineralwasser, holte dann ein Stück Leber aus dem Kühlschrank, schnitt es in gleichmäßige Teile und stellte es der Katze hin. Willi hatte sich auch schon seit Tagen nicht mehr sehen lassen. Angeblich waren Katzen ja so treu. In Wirklichkeit wussten sie wahrscheinlich nur genau, wo es etwas zu fressen gab und einen warmen Schlafplatz.
    Ann Kathrin Klaasen machte ein paar Mauzgeräusche, doch sosehr sie sich auch bemühte, eine Katze zu imitieren, Willi ließ sich nicht blicken.
    Sie fühlte sich zurückgestoßen, ja richtig ausgenutzt. Auch von Willi.
    Sie dachte kurz an die verrückte Mörderin, die Ostfriesland so lange in Aufruhr versetzt hatte. Ann Kathrin beschloss, sie mal wieder zu besuchen. Zwischen den beiden war so etwas wie eine Freundschaft gewachsen.
    Hätte sie mir sonst ihren Kater Willi anvertraut, dachte Ann Kathrin. Dann spürte sie es wie einen Stich in der Magengegend: War sie schon so weit heruntergekommen, dass sie, um überhaupt noch persönliche Beziehungen zu haben, auf gefasste Straftäter zurückgreifen musste? Es war ihr gelungen, das Vertrauen der Täterin zu gewinnen. Aber sie hatte das ihres Sohnes verloren.
    Sie schüttelte sich und beschloss, ans Meer zu fahren. Der Wind am Deich hatte ihr schon oft die Gedanken freigepustet, wenn sie zu sehr verstrickt war in ihr persönliches Geflecht oder in einen Fall.
     
    Er sah ihr nach, wie sie auf ihrem Fahrrad zum Deich radelte. Das Haus war jetzt leer. Es lag, von den Hecken gut geschützt,
im Norden von Norden, direkt bei den Bahngleisen. Höchstens einen Kilometer Luftlinie vom Meer entfernt. Hier würde ihn niemand bemerken. Schon gar nicht in der Dunkelheit.
     
    Heinrich Jansen spürte seine Füße nicht mehr. Er sah, dass sie zitterten, aber es war kein Gefühl mehr in ihnen. Das Isolierband, mit dem seine Beine ans Stuhlbein gefesselt waren, schnitt tief in seine Haut.
    Er jammerte. Einerseits fürchtete er nichts mehr, andererseits

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