Ostfriesenblut
hoffte er, dass sein Peiniger bald zurückkommen würde, denn er wusste, dass er sonst nicht mehr lange zu leben hatte.
Hunger und Durst hatten ihn so schlapp gemacht, dass er immer wieder ohnmächtig wurde. Was aber viel schlimmer war: er brauchte diese Scheiß-Medikamente.
Sie lagen keine zwei Meter von ihm entfernt auf dem kleinen Tischchen. Daneben ein Rohrstock und die Peitsche. Wie um ihn zu verhöhnen, hatte der Mann, bevor er ihn allein ließ, ein volles Glas Wasser auf den Tisch gestellt.
Lieber Gott, betete Heinrich Jansen, lieber Gott, bitte lass mich nicht so sterben.
Selbst um diese Jahreszeit gab es einsame Stellen am Deich. Doch Ann Kathrin Klaasen war mit ihrem Rad genau hier hingefahren, wo alle Touristen zuerst ankamen: Zwischen Strandhalle und Diekster Köken fühlte sie sich wohl. Sie mochte es, in einer Ecke der Welt zu wohnen, die immer wieder von Touristen überflutet wurde. Sie gaben dem Norder Stadtbild im Sommer etwas Mediterranes. Die Menschen saßen draußen in der Einkaufsstraße und tranken Milchkaffee, es wurde eng in den Geschäften, es gab nie genug Parkplätze, und die Straße zwischen Norden und Norddeich war immer verstopft. Trotzdem freute sie sich, wenn die Touristen kamen, und suchte bewusst die Orte auf, an denen sie waren. Sie sprach mit niemandem und
wollte auch auf keinen Fall angesprochen werden. Sie genoss es, sonntags im Strom der Touristen mitzufließen, als sei sie eine von ihnen.
Gibt es etwas Besseres, als da zu wohnen, wo andere Urlaub machen, hatte ihr Vater zu ihr gesagt. So gern hätte sie jetzt mit ihm gesprochen und ihn um Rat gefragt. – Sollte sie um Hero, ihren Ehemann, kämpfen? Sollte sie wirklich versuchen, ihn zurückzugewinnen?
Sie lächelte. Während sie am Deich einem knutschenden Touripärchen zusah, fielen ihr die Worte ihres Vaters wieder ein:
Dumme rennen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten
.
War es das? Musste sie einfach nur abwarten, bis Hero reumütig zu ihr zurückkam? Wollte sie ihn überhaupt noch? Würde sie ihn wieder aufnehmen oder einfach nur die Genugtuung genießen, dass seine neue Beziehung gescheitert war?
Vielleicht war es besser, sich neu zu orientieren. Ihr Kollege Weller warb geradezu rührend um sie. Er war auch für ostfriesische Verhältnisse nicht wirklich ein Casanova. Aber in letzter Zeit hatte sie sich manchmal gefragt, ob sie seinem Werben nicht einfach nachgeben sollte. Grimmig dachte sie: Und sei es nur, um Hero zu ärgern. Er würde es bestimmt sofort erfahren, wenn sie ein Liebesverhältnis mit ihrem Kollegen anfinge.
Vom Meer her kamen dunkle Wolken. Es sah aus, als würden sie zwischen Juist und Norderney aus der Tiefe der Nordsee hochsteigen, und der Wind trieb sie nun viel zu schnell in Richtung Strand. Auf dem Wasser regnete es bereits. Hier an Land lagen die Menschen noch in ihren Strandkörben und sonnten sich. Aber die ersten Muttis riefen bereits nach ihren Kindern, um mit ihnen in die Ferienwohnungen zu flüchten. Wer einen Fotoapparat dabeihatte, knipste das Spektakel.
Zwei Regenbogen standen plötzlich auf dem Wasser, wie eine Verbindung zwischen Juist, Norderney und dem Festland. Das Wort »Regenfront« bekam für viele Menschen jetzt zum ersten
Mal eine sichtbare Bedeutung. Hier, wo das Land so flach war und man so weit blicken konnte, näherte sich der Regen oft wie ein Nachbar, der zu Besuch kommt.
Es dauerte nur Minuten, dann klatschten die ersten Tropfen auf die Strandkörbe. Ann Kathrin Klaasen setzte sich auf die Deichspitze. Sie stützte sich mit den Händen im Gras ab und sah von dort aus den fliehenden Touristen zu. Sie konnte den Regen riechen, bevor sie ihn auf der Haut spürte. Ja, das war Ostfriesland. Der Wetterwechsel in wenigen Minuten. Geht man hinten aus dem Haus, scheint die Sonne, geht man vorne raus, regnet es bereits.
Jetzt war sie allein und klatschnass. Sie reckte den Wolken ihr Gesicht entgegen und genoss es, dass ihre Kleidung aufweichte. Sie stellte sich vor, Regen und Wind seien ihre Liebespartner, und sie ließ sich von ihnen streicheln.
Jetzt war nur noch ein Regenbogen da, und auch der würde bald verschwinden, denn dort hinten über Juist war der Himmel schon wieder wolkenlos.
Als die Sonne unterging, saß sie immer noch da und war inzwischen schon längst wieder trocken. Wenn sie geahnt hätte, was in diesem Moment jemand vor ihrem Haus aus dem Auto lud, hätte sie ihre Kollegen angerufen und wäre auf dem schnellsten Wege zurückgefahren.
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