Ostfriesenblut
Stattdessen radelte sie an den stehenden Autokolonnen vorbei nach Norden zurück, um zunächst im Middelhaus, dann in der Backstube eine Altbierbowle zu trinken. Bevor sie ging, bestellte sie sich zu Ehren von ihrem Vater noch einen eiskalten Doornkaat.
»Prost, Papa«, sagte sie vielleicht ein bisschen zu laut, denn ein Gast drehte sich verwundert nach ihr um. Sie lächelte ihn an und leerte das Glas.
Ann Kathrin musste grinsen. Wenn Hero zu ihr in den Distelkamp Nr. 13 zurückkommen wollte, würde er sich ganz schön
wundern. Das Zimmer ihres Sohnes, hatte sie unberührt gelassen. Aber seins nicht. Dort, wo er vorher mit seinen Klientinnen Familienprobleme und Magersucht aufgearbeitet hatte, hatte sie eine ganz andere Art von Arbeitszimmer gemacht. Er würde es wahrscheinlich spöttisch ein Museum nennen.
An einer Wand hingen alle vergrößerten Bilder vom Banküberfall, deren sie hatte habhaft werden können. Der Hubschrauber. Ihr toter Vater. Die wörtliche Aufzeichnung sämtlicher Gespräche mit den Bankräubern und Geiselnehmern.
Sie hatte diesen Fall in seine Einzelheiten zerlegt. Sekunde für Sekunde kannte sie den Ablauf. Jeden Fehler, den ihre Kollegen gemacht hatten. Das perfide, raffinierte Spiel der Geiselnehmer, bis hin zum Tod ihres Vaters. Die Schweine mussten noch immer frei sein. Und Ann Kathrin Klaasen wusste eins: Das waren echte Profis.
Lange konnte das Geld nicht mehr reichen. Wer im Untergrund lebte oder auf der Flucht war, verbrauchte größere Summen als der Normalbürger.
Sie würden wieder zuschlagen. Schon bald. Und diesmal wollte sie dem Mörder ihres Vaters in die Augen sehen und ihn überführen. Er würde nicht noch einmal ungeschoren davonkommen.
Sie sah das Gesicht ihres Exmannes Hero vor sich. Wie oft hatte er zu ihr gesagt: »Du bist doch nur Polizistin geworden, um den Tod deines Vaters zu rächen. Du bist immer noch sein braves Mädchen.«
Am Anfang hatte er das warmherzig gesagt, mit geradezu therapeutischem Mitgefühl. Später spöttisch. Wahrscheinlich ging sie ihm seit Jahren damit auf die Nerven. Niemand konnte es mehr hören, wenn sie über den Überfall sprach. Sogar die Kollegen verdrehten die Augen und verließen mit urplötzlicher Geschäftigkeit den Raum, wenn sie damit anfing.
Sie wusste, dass sie stundenlang darüber vor sich hin monologisieren
konnte. Doch nun war alles anders als vorher. Sie war noch tiefer eingedrungen. Sie hatte sämtliche Banküberfälle in ganz Europa seit dem Tod ihres Vaters analysiert. Es gab erkennbare Muster, wie Fingerabdrücke. Sie erkannte gleich, wenn ein spanischer Bankräuber zunächst in Frankreich zugeschlagen hatte und sich dann in Richtung Italien fortbewegte. Aber für ihn interessierte sie sich nicht. Das war nicht der Mörder ihres Vaters. Das war einer von diesen kleinen Spinnern, die Fehler machten und nur deshalb entkommen konnten, weil die Fehlerquote bei der Gegenseite noch höher lag. Er würde eines Tages ins Netz laufen, sozusagen ganz von allein.
Aber der Schwarze Mann mit seinen drei Komplizen, der ihren Vater auf dem Gewissen hatte, der war nie wieder in Erscheinung getreten. In ganz Europa nicht.
Vielleicht hat er ja aufgehört, dachte sie plötzlich und knallte ihr Doornkaatglas ein bisschen zu fest auf den Tisch. Vielleicht züchtet er irgendwo Rosen und war seinen Enkelkindern ein reizender Opa. Vielleicht interessiert sich niemand mehr für diese alten Geschichten. Niemand außer mir.
Sie zahlte und radelte nach Hause zurück. Als sie am Flökeshauser Weg in den Stiekelkamp einbog, wurde sie aus einem dunkelblauen Passat Kombi beobachtet.
Gleich ist es so weit, dachte er voller Vorfreude. Gleich.
Am liebsten hätte er direkt ihr gegenüber eine kleine Wohnung gemietet, um sie besser beobachten zu können. Aber im Distelkamp und im Roggenweg standen nur Einfamilienhäuser. Zu vermieten war da gar nichts, und selbst wenn jemand ihm ein Zimmer unterm Dach angeboten hätte … das war zu auffällig.
Schade, dachte er, dass sie nicht in einer Hochhaussiedlung in Frankfurt wohnt. Dann könnte ich ihr noch viel näher kommen als jetzt.
Nach den schlimmen Ereignissen im April hatte Ann Kathrin
Klaasen unterm Dachvorsprung zwischen Garage und Haustür eine digitale Überwachungskamera angebracht, die, sobald die Lichter durch den Bewegungsmelder angingen, die Bilder auf ihren Laptop im Haus übertrug. Es gab auch für den Garten hinterm Haus eine solche Webcam und für den Vorgarten. Nie wieder
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