Ostfriesenblut
Thiekötter wusste, warum er sich in die Computerabteilung gemeldet hatte. Er war den Umgang mit Leichen und Blut leid. Auf dem Bildschirm war alles leichter. Er brauchte
diesen Schutz für sich selbst. Er hatte genug von all diesem Dreck.
»Können wir das ausdrucken?«, fragte Ann Kathrin.
Er nickte und es geschah augenblicklich.
Ann Kathrin lief mit den Fotos die Treppe hoch zu Weller und Rupert. Jedes Bild war DIN -A 4 -groß und in geradezu leuchtenden prächtigen Farben.
Weller und Rupert hängten die Fotos sofort auf und versuchten, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es waren zwölf Bilder von einer an einen Stuhl gefesselten Frau, die langsam starb.
Angesichts der Fotos reagierte Rupert heftig. »Es ist mir egal, was du jetzt von mir denkst, Ann Kathrin, aber wenn du gegen diese Frau Kühlberg keinen Haftbefehl erlässt, bin ich gezwungen, beim Chef zu beantragen, dass er dich aus dieser Sache rausnimmt.«
»Geh ruhig zu Ubbo Heide, wenn du willst«, sagte sie. Fast wäre es ihr lieb gewesen, diesen Fall zu verlieren. Doch dann entdeckte sie auf den Fotos etwas Schreckliches. Auf den letzten zwei Bildern war gar nicht Frau Orthner, sondern eine andere Frau zu sehen. Sie saß in der gleichen Haltung da. Auch mit Klebestreifen angebunden. Hinter ihr war ebenfalls ein Buchregal. Ihr Kopf hing nach unten, sodass man ihr Gesicht nicht sehen konnte. Aber sie trug eine andere Oberbekleidung als Frau Orthner, und hinter ihr im Buchregal war deutlich eine Lexikonreihe zu erkennen, die es in dem anderen Buchregal an dieser Stelle nicht gab. Außerdem waren die Haare der Frau länger und viel dunkler als die von Frau Orthner. Die Figur wirkte kräftiger, und der Stuhl hatte ein helleres Holz.
Es waren viele solch kleiner Details, die Ann Kathrin klarmachten, dass sie auf etwas Ungeheuerliches gestoßen war.
»Er hat ein weiteres Opfer in seiner Gewalt. Und er hat es bereits fotografiert.« Ann Kathrin spürte, dass eine Welle von
Energie sie durchschoss. »Vielleicht lebt die Frau ja noch. Vielleicht können wir sie noch retten!«
»Was soll das?«, fragte Rupert. »Wie kommst du darauf? Vielleicht sind die Aufnahmen hier nur ein bisschen verschwommen oder … «
Ann Kathrin brüllte ihn an: »Rupert! Guck hin! Benutz deinen Verstand! Das ist eine andere Frau! Deshalb hat er die Bilder auf dem Laptop gelassen.«
»Warum tut der das? Will der hier eine Schnitzeljagd mit uns veranstalten oder was?«, fragte Rupert empört.
»Ja«, nickte Weller. »So was Ähnliches befürchte ich auch. Vor allen Dingen will er uns zeigen, für wie blöd er uns hält. Er will uns austesten. Und er will, dass wir ihn jagen.«
Ann Kathrin rannte die Treppen hinunter. Die beiden Männer hatten keine Ahnung, wohin sie wollte, folgten ihr aber. Auf der Treppe rief sie: »Er spielt mit uns, genauso wie mit seinen Opfern!«
Sie stürmte in Charlies Zimmer. »Kannst du das vergrößern?«, fragte sie. »Kannst du einzelne Ausschnitte auf dem Bildschirm rausholen? Ich brauch alles. So groß, wie es nur geht. Wir müssen herausfinden, wie die Frau heißt und wo er sie gefangen hält. Vielleicht können wir sie retten.«
Rupert sah nicht den Hauch einer Chance. »Wie denn, bitte schön? Was willst du auf den Bildern erkennen? Da ist kein Fenster zu sehen, gar nichts. Das kann überall sein. Von Ostfriesland bis zu den Alpen. Das ist ein Scheißstuhl mit einem Scheißbuchregal.«
Wenn Rupert nicht weiterwusste, verfiel er gern in so eine Fäkalsprache. Er hatte noch ganz andere Sachen drauf, und Ann Kathrin wusste, wie steigerungsfähig seine Ausdrucksweise war, wenn er an seine Grenzen kam und die ganze Welt für sein Unglück verantwortlich machte. Sie wollte sich das jetzt auf keinen Fall anhören. Sie brauchte jetzt nichts, was sie runterzog, sondern
sie suchte einen Strohhalm, einen Pack-An, irgendetwas. Sie wusste selbst nicht, was sie suchte, aber wenn es etwas gab, dann war es auf dem Bild.
Sie fuhr Rupert an: »Dann geh du doch Ulrike Kühlberg im Krankenhaus verhaften und lass uns hier in Ruhe arbeiten!«
»Noch niemand von uns hat diese Frau vernommen, aber wir scheinen ja alle schon davon auszugehen, dass sie völlig unschuldig ist!«, keifte Rupert zurück.
»Wer das hier gemacht hat«, konterte Ann Kathrin, »flüchtet sich nicht ins Krankenhaus, Rupert. Das hier ist unvergleichlich viel grundsätzlicher. Geplanter. Durchdachter. Ja, bösartiger, als du auch nur ahnst.«
Ein Schauer lief Weller den Rücken
Weitere Kostenlose Bücher