Ostfriesenblut
zu tun. Ich
reiß mich hier nicht um Arbeit. Aber ich will auch nicht dabei zugucken, wie du … « Er sprach nicht weiter.
»Was – wie ich …? Wie ich den guten Ruf der ostfriesischen Kripo ruiniere, oder was willst du sagen?«
Im Grunde verstand sie Rupert. Aber sie wusste etwas, das er nicht wusste: Sie hatte die Bilder auf dem Laptop gesehen. Und das passte für sie nicht zur Tochter. Ann Kathrin konnte sich gut vorstellen, dass die Tochter ihre Mutter gefesselt hatte und sie langsam verhungern ließ. Vielleicht war es ein Akt der Wut, der Rache, der Hilflosigkeit, vielleicht hatte es ungeplant begonnen und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Manchmal eskalierten solche Situationen, und es gab für den Täter keinen Ausweg mehr. Viele Morde waren am Ende nur Vertuschungsmorde. Der Täter versuchte, eine kleinere, weniger schlimme Tat zu verdecken, indem er einen Mord beging. Das war bei fast allen Vergewaltigungen so. Richtige Lustmörder waren selten. Für viele Täter gab es nur eine Möglichkeit: Der einzige Zeuge – das Opfer – musste sterben.
Vielleicht war es hier genauso. Vielleicht sollte alles nur eine Bestrafung der Mutter werden.
Wie würde die Welt aussehen, wenn alle ihren Eltern das Gleiche antäten, was ihre Eltern ihnen angetan haben, dachte Ann Kathrin. Wer weiß, wie viele Menschen manchmal mit solchen Gedanken spielten. Es lag in der menschlichen Natur, zurückgeben zu wollen, was man erhalten hatte. Im Guten wie im Bösen. Das eine nannte man Dankbarkeit, das andere Rache. Aber machte eine Tochter Fotos von ihrer langsam sterbenden Mutter? Warum? Um sich hinterher daran zu erfreuen?
Ein Gedanke durchzuckte Ann Kathrin. Vielleicht hatte gar nicht der Peiniger diese Fotos gemacht, sondern Bastian, das Enkelkind. Waren die Fotos ein ähnlicher Versuch, auf die Tat aufmerksam zu machen, wie die Leiche vor ihre Haustür zu legen?
Warum hatte der Zeuge die Tat nicht verhindert, statt sie zu fotografieren? Er hätte die alte Dame losbinden und die Polizei rufen können. Vermutlich wollte er, dass genau das geschah, was geschehen war. Aber es wollte es dokumentieren, und die Polizei sollte dahinterkommen.
Außer Bastian Kühlberg kannte sie niemanden, der für so etwas ein Motiv hatte. Ihm sicherte es eine Erbschaft von mehr als 800 000 Euro. Und gleichzeitig war er damit seine Eltern los. Er konnte mit seinen barbusigen Fotomodellen jetzt endlose Orgien feiern, dachte Ann Kathrin grimmig.
Charlie Thiekötter rief an: »Ich habe die Festplatte ausgebaut. Überhaupt kein Problem. Du kannst alle Daten abrufen.«
Ann Kathrin atmete erleichtert auf. Offensichtlich hatten ihre Kaffeetropfen keinen Schaden angerichtet. Sie lief gleich runter zu Charlie.
Niemand, der diesen Raum betrat, vermutete, dass dort ein Kriminalkommissar arbeitete. Es sah eher aus wie eine Müllhalde für Computerschrott. Ein großer Teil der Ermittlungsarbeit erstreckte sich heutzutage auf Computer, Festplatten, Laptops und die Rückverfolgung von Nachrichten.
Sie fragte sich, wie Charlie hier noch zurechtkam. Ausgeweidete Computer lagen vor ihm, und wenn sie sich nicht täuschte, wurden seine Brillengläser immer dicker.
Er machte einen entnervten Eindruck: »Suchst du was Bestimmtes auf der Festplatte? Soll ich dir was überspielen? Es sind im Grunde alles ungesicherte Daten. Jeder Zwölfjährige kann darauf zugreifen, wenn er das Passwort hat, und das zu knacken ist nun auch kein Problem. Es gibt inzwischen Programme, die so was für einen machen«, grinste er.
»Kann es sein«, fragte Ann Kathrin ihn, »dass jemand von außen in meinen Computer hineinhackt und dann meine Videoüberwachungsanlage steuert?«
Charlie sah sie an, als hätte sie ihm eine sehr dumme Frage
gestellt. Er antwortete nicht, sondern schob sich ein paar Schokonüsse zwischen die Lippen. Er bot ihr auch welche an. Sie griff zu.
»Jetzt guck nicht so, als hätte ich dich gefragt, ob die Erde eine Scheibe ist. Ich weiß es einfach nicht. Und jemand macht mit meinem Computer, was er will.«
»Und jetzt fragst du dich, ob es einer aus deiner näheren Umgebung ist, der das direkt am PC macht oder ob es auch vom anderen Ende der Welt möglich ist.«
Sie nickte erleichtert. »Ja, genau darum geht es.«
Er lutschte die Schokolade nicht von den Nüssen ab, sondern ließ sie zwischen den Zähnen zerkrachen. Er mochte das Geräusch, wenn etwas in seinem Mund zerplatzte. Alles Weiche, Wabbelige, war ihm widerwärtig. Er verstand
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