Ostfriesenblut
nicht, wie Menschen Muscheln essen konnten. Es war nicht der Geschmack, sondern die Konsistenz, die in ihm ein Ekelgefühl aufsteigen ließ. Er war der geborene Rohkostesser. Möhren, die krachten, oder Äpfel. Schon wenn etwas eingekocht war und weich aus der Dose kam, mochte er es nicht mehr. Für Chips ließ er alles stehen. Trotzdem war er ein durchtrainierter, drahtiger Mann. Manchmal sprang er während der Arbeit auf, machte vierzig, fünfzig Liegestütze, dann setzte er sich wieder und machte weiter, als ob nichts geschehen wäre.
Er holte zu einer längeren Erklärung aus. »Ann Kathrin, die Vorstellung, dass man an einem Computer sitzen muss, um ihn zu beeinflussen, kommt aus einem sehr mechanistischen Abschnitt der Zeitgeschichte.«
O Gott, dachte sie, jetzt fängt er große Philosophien an. Das ist nicht das, was ich jetzt gerade brauche.
Aber dann wurde er sehr konkret. Er stieß mit dem Finger gegen ein Laptopgehäuse und sagte: »Das hier ist nur eine leere Hülle. Sobald das Ding mit dem Netz verbunden wird, kannst du überall rein, aber es kann auch jeder zu dir rein – also, vereinfacht
gesprochen. Du musst dir das vorstellen wie den Wasserkreislauf. Jeder kann irgendwo den Hahn aufdrehen, und es läuft Wasser raus. Aber jeder kann auch irgendwo was ins Wasser leiten und uns damit alle vergiften, sofern unsere Abwehrsysteme versagen, unsere Kläranlagen und … «
»Ja, und was heißt das jetzt genau?«
»Ich wette, dir hat einer einen Trojaner reingesetzt und damit hat er Zugriff, erstens auf all deine Daten, und zweitens, wenn er geschickt genug ist, kann er dein Gerät steuern. Von jedem Ort der Welt aus. Und zwar besser als du, wenn du dransitzt.«
»Was kann der alles genau?«
»Alles. Er kann alles lesen. Kann deine Daten vernichten, verändern, neue hinzufügen. Er kann in deinem Namen irgendwo auftreten und Geschäfte machen. Kann sich alle Leute aus deinem Adressbuch fischen und ihnen unter deinem Absender Briefe schreiben – ach, was du willst.«
»Und er kann auch die Videoaufnahmen meiner Überwachungsanlage ein- und ausschalten?«
Jetzt stopfte Charlie eine ganze Hand voll Schokonüsse in den Mund und ließ sie genüsslich krachen. »Klar kann er das. Sofern das Zeug an deinen Computer angeschlossen ist und du im Netz bist.«
»Das heißt, wenn ich den Computer ausschalte, kann auch nichts passieren?«
Er grinste. »Ja. Es sei denn, er kann ihn von Ferne wieder hochfahren. Ich vermute mal, er kann ihn ein- und ausschalten, wie er Lust hat. Wenn ich mir das Gerät mal angucken kann – er hat mit Sicherheit Administratorrechte. Er kann sich immer mehr Rechte übertragen und dir immer mehr Rechte wegnehmen. Wenn er will, fliegst du ganz raus.«
Ann Kathrin merkte, dass es ihr eng um die Brust wurde. Sie atmete schwer, gleichzeitig spürte sie eine Erleichterung. Wenn das von außen möglich war, dann hatte Eike vermutlich nichts
damit zu tun. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihr Sohn irgendwo mit seinen Freunden saß und sich einen Spaß daraus machte, in Mamis Computer zu hacken. Ganz ausgeschlossen war es aber nicht. Sie musste sich eingestehen, dass sie seine Freunde nicht mal kannte.
Es gefiel ihr zwar nicht, einen von außen ferngesteuerten Computer in ihrer Wohnung zu haben, aber das war immer noch besser als die Vorstellung, ein Typ sei bei ihr eingestiegen, um die Anlage abzuschalten.
»Wie bin ich denn an diesen Trojaner gekommen?«
»Sofern es ein Trojaner ist«, sagte Charlie und spülte mit einem Schluck Cola Light den Nussschokoladebrei in seinem Mund hinunter. »Vielleicht hat er dir eine E-Mail geschickt, und das Ding war im Anhang, oder du hast Spiele gespielt, dir Software runtergezogen und bekamst den Trojaner sozusagen kostenlos mit dazu.«
»Kann man sich denn dagegen nicht wehren?«, fragte sie empört.
»Klar kann man das. Es gibt da ganz einfache Tricks. Aber man muss sie immer wieder verändern, denn die bösen Jungs lernen von den guten Jungs.«
Er gab ihr ein spezielles Schutzprogramm gegen Viren und Trojaner. Er wollte ihr die Anwendung erklären, doch sie hörte schon gar nicht mehr richtig zu. Auf seinem Bildschirm waren inzwischen die verschiedenen Speicher der Festplatte erschienen. Er klickte sie wie mechanisch einmal alle durch, und bei
Fotos
blieb er genauso stutzig hängen wie sie letzte Nacht.
»Mein Gott, schau dir das an! Ist das die tote Frau, die bei dir vor der Haustür lag?«
Ann Kathrin Klaasen nickte.
Charlie
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