Ostfriesenblut
Bibliotheken haben alle geöffnet.
Wenn wir jetzt gut arbeiten, wissen wir in einer halben Stunde, wo sie ist, und können sofort ein Einsatzkommando zu ihrer Wohnung schicken.«
Es dauerte keine halbe Stunde. Bereits nach zwölf Minuten meldete sich auf Ruperts Computer Jana Dreyer, eine Bibliothekarin aus Jever. Sie hatte heute eigentlich Geburtstag und wollte sich einen Tag frei nehmen, um die Feier am Abend vorzubereiten. Aber weil eine Kollegin krank geworden war, sprang sie ein.
Zunächst zögerte sie, ob sie die Mail öffnen sollte. Sie hielt das Ganze für Spam und wollte die Nachricht schon löschen, doch dann folgte sie einem inneren Impuls und ließ sich auf das Risiko ein.
Sie hatte die Angelique-Romane selbst vor einem halben Jahr aussortiert. Sie waren zerlesen und wurden auch nicht mehr so oft ausgeliehen wie früher. Sekunden, nachdem ihre Antwortmail auf Ruperts Bildschirm erschienen war, klingelte in der Bibliothek auch schon das Telefon.
Doch Jana Dreyer musste die aufkeimende Freude am Ende der Leitung zunächst dämpfen: »Nein, ich kann nicht einfach nachgucken, wer das Buch ausgeliehen hat. Es gehört zu unseren ausrangierten Beständen. Wir haben die verkauft. Für 50 Cent das Stück. Hier steht immer so eine Kiste mit Büchern herum, die nicht mehr so gefragt sind. Aber unter Sammlern finden Sie immer … «
Rupert hatte auf laut gestellt. Ann Kathrin und Weller hörten mit.
»Junge Frau«, mischte Ann Kathrin sich ein. »Es geht um Leben und Tod. Wir müssen herausfinden, wer das Buch gekauft hat. Und zwar sofort. Glauben Sie mir. Dies ist kein Scherz. Ich heiße Ann Kathrin Klaasen und bin Hauptkommissarin der Kriminalpolizei in Aurich. Sie können mich zurückrufen, wenn
Sie mir nicht trauen. Aber was immer Sie tun – tun Sie es um Himmels willen sofort.«
»Ich vertraue Ihnen«, sagte Jana Dreyer.
»Wenn die Frau das Buch auf einem Flohmarkt gekauft hat, sind wir aufgeschmissen«, sagte Rupert.
Ann Kathrin Klaasen bestand darauf, dass sie jetzt ein Stück weiter waren. »Wir wissen jetzt immerhin, dass diese Wohnung in Jever ist. Und wenn wir Glück haben, hat diese Frau das Buch nicht auf einem Flohmarkt gekauft, sondern aus Ihrer Kiste. Kann das sein?«
»Natürlich kann das sein«, antwortete Jana Dreyer.
»Dann heißt es, dass sie Büchereibenutzerin ist. Dann hat sie einen Büchereiausweis.«
»Ja, aber ich weiß doch trotzdem nicht, wer die Frau ist.« Jana Dreyer brach am Telefon der Schweiß aus. Ihre Knie zitterten. Sie hatte Angst, schlappzumachen, doch sie wollte das jetzt durchstehen. Sie spürte, dass mit ihr kein Schabernack getrieben wurde. Das hier war todernst, und sie würde ihren dreißigsten Geburtstag nie mehr im Leben vergessen.
»Haben Sie Zugriff auf die Leserkarteien?«
»Natürlich.«
»Alle Männer scheiden aus. Auch alle Kinder und Frauen unter sechzig.«
Jana Dreyer fasste zusammen: »Sie suchen also eine Leserin aus unserer Bibliothek, die mindestens sechzig Jahre alt ist.«
Ruperts Rücken schmerzte. Er bog sich durch. Etwas an Ann Kathrins forscher Art machte ihn fertig. Immer, wenn sein Rücken sich meldete, passte ihm etwas nicht. Er war dann entweder beruflich überlastet oder hatte privaten Stress. Meistens beides gleichzeitig.
Weller dagegen ging es blendend. Er saß ein bisschen wie ein kleiner Junge da und drückte die Daumen.
»Können Sie an diese Daten herankommen?«
»Das sind viele. Ein paar hundert.«
Ann Kathrin gab Weller einen Wink. »Ans Telefon. Ruf die Kollegen in Jever an. Wir haben Arbeit für sie.«
»Na«, lachte Rupert zynisch, »da werden sie sich aber freuen. Die haben ja sonst nichts zu tun.«
Weller saß schon am Telefon und fühlte plötzlich, wie sehr er diesen Job liebte.
Wir schaffen es, dachte er. Wir schaffen es.
Er nickte Ann Kathrin zu. »Dank dir hat sie eine Chance zu überleben.«
Vielleicht war es Ann Kathrins Stimme. Vielleicht saß auch nur der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt in Jever an der richtigen Stelle. Jedenfalls rückten mehr als hundert Polizeibeamte, die eigentlich zu einer Sonderübung zusammengezogen worden waren, augenblicklich aus. Terroristen, die einen Bus gekapert hatten, sollten in Jever gestoppt und überwältigt werden. Das sah der Übungsplan vor. Stattdessen besuchten jetzt Polizeibeamten alle Damen über sechzig, die einen Büchereiausweis besaßen.
Einige von ihnen genossen gerade das zweite Frühstück. Andere das erste. Ein paar freuten sich im
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