OstfriesenKiller
sie.
Normalerweise war diese Strecke hier wenig befahren, doch heute Morgen hatte sie einen Lastwagen vor sich. Möbeltransport Janssen.
Das hier war ihr Ostfriesland. Die Felder weit und ohne Zäune. Sie mochte die saftigen Wiesen, in denen die Köpfe vom Löwenzahn leuchteten wie kleine gelbe Sonnen. Um diese Jahreszeit war die Landschaft hier in sattes Gelb getaucht.
Sie versuchte gar nicht, den Möbeltransporter zu überholen, sondern drehte die Scheibe herunter, genoss den kalten Fahrtwind und ließ den Blick über die Rapsfelder streifen. Herrlich, dieses Gelb!
Ann Kathrin Klaasen sog die Luft ein und bildete sich ein, den Löwenzahn riechen zu können. Erinnerungen aus ihrer Kindheit kamen hoch. Wie sie in solchen Wiesen mit ihrem Vater gespielt hatte. Etwas später in der Jahreszeit. Sie pflückten Pusteblumen und bliesen die kleinen Fallschirmchen von den Stängeln. Jedes einzelne würde eine neue Blume ergeben, hatte ihr Vater versprochen. Fleißig, als sei es ihre Aufgabe, ja, als sei sie dafür geboren worden, arbeitete sie daran, dass die Pusteblumen niemals aussterben würden. Wenn sie jetzt ihren Blick streifen ließ, schien es, als hätte sie gesiegt.
Sie parkte ihren froschgrünen Twingo im Carolinenhof und ging mit schnellen Schritten durch die Einkaufspassage. Sie musste sich noch etwas Gutes tun. Sie kaufte sich ein belegtes Brötchen. Wurst, Käse, Tomaten, ein Salatblatt. Nein, sie biss nicht hinein, sie ließ es sich einpacken. Sie steckte das Brötchen in ihre schwarze Tasche, wo sie es sofort wieder vergaß.
Man konnte hier 90 Minuten lang kostenlos parken, ab dann kostete es pro angefangener Stunde 50 Cent. Damit hatte sie zum Glück nichts zu tun. Sie hatte einen Parkausweis. Sie hätte den Wagen auf den Hof der Polizeiinspektion stellen können. Aber heute fand sie das unpassend. Manchmal wurde sie komisch angesehen, als gehöre es sich für eine Kommissarin nicht, einen Twingo zu fahren. Der Gedanke, damit auf Verbrecherjagd zu gehen, war ja auch ein bisschen lächerlich. Doch der Twingo war ihr Privatwagen. Damit lieferte sie sich keine Verfolgungsjagden in Ostfriesland. Überhaupt war ihr Leben als Kriminalkommissarin bis jetzt viel unspektakulärer verlaufen als in jedem ARD -Tatort.
Wenn mein Leben verfilmt würde, dachte sie, manchmal fast neidisch auf ihre TV -Kollegen, würden die Zuschauer dann überhaupt zu mir halten? Bin ich jemand, mit dem man sich identifizieren kann?
Als sie die Dienststelle betrat, hielt sie ihren Chip unter das Lesegerät, um ihr Kommen für ihr Zeitkonto registrieren zu lassen. Sie stieg in den Fahrstuhl und fuhr zur zweiten Etage hoch.
Als sie den Flur zu ihrem Büro entlangging, lag eine merkwürdige Nervosität in der Luft, als sei etwas Bedeutendes geschehen. Etwas, das die Aufmerksamkeit der Nation bald auf Aurich richten würde.
»Von Kai Uphoff keine Spur. Null ouvert Hand.«
Diesen Ausdruck gebrauchte Weller, der leidenschaftliche Skatspieler, oft.
»Wie vom Erdboden verschluckt. Aber der kommt nicht weit. Hat höchstens fünfzig Euro in der Tasche. Ich wette, wir gabeln ihn heute noch bei einem Freund auf. Oder er stellt sich freiwillig. Kommt mit Anwalt oder so.«
Während Weller redete, spielte Rupert wie unbewusst mit den Bildern auf seinem Schreibtisch.
»Ich glaube nicht, dass er es war«, sagte Ann Kathrin mit Nachdruck. »Er hat auf der Frisia V so viele Fingerabdrücke hinterlassen, dass er von den Kollegen gefasst werden musste. Der Mörder von Ulf Speicher war viel vorsichtiger.«
»Na, na, na, Kai Uphoff hat am Tatort auch Fingerabdrücke hinterlassen. Auf der Klingel. Und dann ist er auch noch getürmt.«
»Stimmt, das spricht nicht gerade für ihn.«
Weller spürte, dass seine Kollegin zu Hause schweren Stress hatte. Ihre Gereiztheit war nicht auf den Fall allein zurückzuführen. Er beschloss, sie heute zum Abendessen einzuladen. Er wollte nicht in irgendein Restaurant mit ihr gehen. Er fand den Gedanken reizvoll, etwas zu kochen und vielleicht mit ihr und Rupert gemeinsam die Sache noch einmal in Ruhe durchzugehen.
In dem Moment kam die Meldung aus Norddeich. Die Leiche eines jungen Mannes war gefunden worden. Sein Gesicht sei entstellt, als habe jemand versucht, ihn zu enthaupten. Aber er habe ein Portemonnaie bei sich gehabt mit Papieren darin. Es könnte sich um einen gewissen Kai Uphoff aus Lütetsburg handeln.
Ann Kathrin Klaasen hatte schon viele Leichen gesehen. Ein erhebender Anblick war es nie.
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