OstfriesenKiller
An der hier hatten über Nacht bereits die Möwen gepickt. Es war schwer zu sagen, was in seinem Gesicht mehr Schaden angerichtet hatte: Die Tatwaffe oder die Schnäbel der Aasfresser.
»Wir haben zwei Leichen«, sagte Ann Kathrin. »Beide Männer kannten sich. Beide gehörten zum Regenbogen-Verein. Jetzt schauen wir uns den Laden an.«
Freitag, 29.April, 9.43 Uhr
Paul Winter malte gedankenverloren Männchen auf seinen Notizblock. Er, seine vier Kollegen und die drei Zivildienstleistenden vom Regenbogen-Verein hatten noch keine Ahnung vom Tod ihres Chefs. Natürlich stand noch nichts in der Zeitung. Sie warteten auf ihn. Doch Ulf Speichers Stuhl blieb leer.
Ludwig Bongart fühlte sich dadurch direkt erleichtert. Einen Chef zu haben, der immer als Erster im Büro war, fand er sehr anstrengend. Er drehte sich eine Zigarette. Als er das Blättchen anleckte, zitterte seine rechte Hand. An seinen rechten Fuß gelehnt stand die Tasche mit den Briefen, die er zu seiner Verteidigung mitgebracht hatte. Er wusste, dass hier etwas gegen ihn lief, und er wollte nicht schutzlos dastehen. Die Sache musste endgültig geklärt werden.
Caro Schmidt machte hier ihr Freiwilliges Soziales Jahr. Sie strickte an Fausthandschuhen.
Der Besprechungsraum war nicht nur mit dicken Akten vollgestopft wie sonst, jetzt standen auch noch überall Kisten mit Plüschtieren herum, alte Lampen und Bücher. Die Vorbereitung für den Flohmarkt.
Josef de Vries nippte an seinem Tee und sah sich in der Runde um. Es lag dicke Luft im Raum.
Paul Winter saß auf heißen Kohlen. Er hatte überhaupt keine Lust, sich jetzt hier mit internen Streitigkeiten und Eifersüchteleien zu beschäftigen. Er wollte zu seiner Tochter. Er hatte Jenny nicht zur Schule gebracht. Sie war immer noch fiebrig. Wahrscheinlich saß sie jetzt mit seiner Frau beim Kinderarzt. Er wäre gerne dabei gewesen. Lioba konnte kein Blut sehen. Sie kippte schon bei dem Gedanken an eine Spritze um. Paul Winter stellte sich vor, wie seine Tochter gerade die Mama tröstete, statt umgekehrt. Seit Jahren hatte er die Kinder bei fast allen Arztbesuchen begleitet.
Während er hier als ehrenamtlicher Mitarbeiter auf den hauptamtlichen Chef und einen Zivildienstleistenden wartete, brauchte seine Tochter ihn. Und das machte ihn sauer. Er würde gleich ein paar klare Worte sprechen. Das nahm er sich vor.
Jutta Breuer wusste auch nicht, wo Ulf Speicher war. Offiziell war Jutta nicht die zweite Chefin, sondern ein ganz normales Mitglied im Team. Aber da jeder wusste, in welcher Beziehung sie zum Chef stand, hatte sie natürlich eine Sonderstellung. Manchmal, wenn sie redete, war es gerade so, als käme die Anweisung von ihm persönlich.
»Also, auch wenn Ulf jetzt noch nicht da ist, lasst uns anfangen. Die Zeit drängt.«
Sie ging zum direkten Angriff über. Ludwig hatte es erwartet. Sie sah ihn mit ihrem Habichtsblick an und feuerte die Sätze gezielt auf ihn ab. Jeder einzelne saß.
»Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, Ludwig. Alle wissen dein Engagement zu schätzen. Aber du hast zu Sylvia jede professionelle Distanz verloren.«
Das Zittern seiner Hände wurde jetzt noch schlimmer. Er hielt sie unter den Tisch, damit es nicht alle sahen.
Zum Glück sprang Paul ihm zur Seite: »Professionelle Distanz? Was erwartet ihr, Leute? Er ist ein Zivi!«
Bernd Simon nickte. »Ohne Zivis gäbe es den Verein doch schon lange nicht mehr.«
Jutta Breuer gab ihm recht. Sie bemühte sich, ihre Stimme sachlich zu halten.
»Wir hatten doch beschlossen, dass Sylvia nur noch von weiblichen Kräften betreut wird.«
Jetzt platzte Ludwig Bongart heraus: »Ja! Bitte! Dann gib du ihr doch Gitarrenunterricht! Ich bin froh, wenn ich sie loswerde! Mir steht das alles bis hier! Ich halt das nicht mehr aus!«
Er hob die Tasche hoch und kippte sie auf dem Tisch aus. Die Briefe segelten quer über die Tischplatte. Zwei fielen zu Boden. Niemand bückte sich und niemand berührte die rosafarbenen und hellblauen Briefchen mit den Herzchen darauf.
»Ich werde in sechs Wochen Papa, und die Sylvia schreibt mir andauernd Liebesbriefe! Meine Freundin wird schon ganz nervös. Glaubt ihr, für mich ist das schön?«
Es war ein modernes Bürohaus. Unten drin eine Buchhandlung.
Ann Kathrin Klaasen und Weller betraten das Gebäude. Hinter ihnen stürmte ein junger Mann die Treppen hoch: Tim Gerlach. Ann Kathrin und Weller nahmen den Fahrstuhl.
»Die Liste von Ulf Speichers Ehrungen ist lang«, sagte Weller. »Der
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