OstfriesenKiller
nebenan.«
Laut, mehr für die anderen bestimmt als für Weller, rief Tim Gerlach geradezu triumphierend: »Ich erzähl alles! Alles!«
Weller sah Ann Kathrin kurz an. Im Laufe der Zeit hatten sie gelernt, sich mit Blicken zu verständigen. Sie war mit seiner Vorgehensweise einverstanden.
Tim Gerlach redete wie ein Wasserfall. Er saß rittlings auf dem Bürostuhl. Manchmal stieß er sich mit dem Fuß ab, so dass der Stuhl sich ein paar Mal drehte. Weller ging im Raum umher, hörte zu und las die Rückendeckel von einigen Akten. Er schaute sich die offenen Kisten an und nahm immer wieder Gegenstände in die Hand. Er blätterte in einem Kochbuch mit dem Titel »Gerichte, mit denen Sie Eindruck machen können«.
»Das ist ein Haufen Krimineller, Herr Kommissar. Die sind so scheinheilig, das glaubt man alles überhaupt nicht.«
»Was genau tun sie denn?«, fragte Weller.
»Von weitem betrachtet ist das ein ganz edles Unternehmen. Sie helfen ganz selbstlos den armen Behinderten …« Tim Gerlach lachte, als hätte er gerade einen Witz erzählt.
Weller hakte nach: »Und – was machen sie in Wirklichkeit?«
»In Wirklichkeit? Ja, haben Sie denn echt gar keine Ahnung, was hier abläuft?«
»Nee«, sagte Weller. »Klär mich auf.«
Jetzt stand Tim Gerlach auf und dozierte: »Die reißen sich das Geld von den Behinderten unter den Nagel. Die denken, die können nichts machen, die sind ja sowieso bescheuert.«
Caro streichelte Jutta Breuers Hand und hielt sie im Arm.
Ludwig Bongart telefonierte. »Ja, stell dir vor, wir sind auch alle fassungslos. Ausgerechnet Ulf … Niemand hier versteht das. Es ist ein einziger Albtraum.«
Die anderen Mitarbeiter waren mit ihrem Schock und ihrer Trauer beschäftigt. Paul Winter erklärte: »Sie müssen das verstehen, Frau Kommissarin. Ulf Speicher ist … war … für uns alle …«
Ann Kathrin Klaasen zog einen Block aus der Tasche. Sie bemühte sich, erst mal beruhigend zu wirken. »Ich kenne Sie doch alle noch gar nicht. Wer sind Sie denn?«
»Ich heiße Paul Winter. Ich bin Musiklehrer. Ich arbeite ehrenamtlich hier, wie die meisten. Mein Bruder war ein Downkind, müssen Sie wissen.«
»Wer sind denn die Hauptamtlichen?«, fragte Ann Kathrin Klaasen.
Jutta Breuer raffte sich auf und putzte sich die Nase. Sie bog ihren Rücken durch und setzte sich gerade hin. Sie stellte beide Füße nebeneinander, um mehr Halt zu haben, und legte ihre Hände auf die Knie.
»Ich bin hier fest angestellt.«
»Und Ihr Name?«
»Jutta Breuer. Diplom-Sozialpädagogin.«
»Frau Breuer, was hatte der Auftritt von dem jungen Mann gerade zu bedeuten?«
Jutta Breuer antwortete mit scharfem Ton. »Sie meinen Tim Gerlach? Der ist ein ganz schlaues Bürschchen. Er versucht, Sylvia Kleine abzukochen. Er hat sie so weit gebracht, dass sie ihm zum Geburtstag ein Auto schenken wollte. Sechzehntausend Euro!«
Jetzt taxierte Jutta Breuer Ann Kathrin Klaasen, um zu sehen, wie sie auf die Summe reagierte. Da sie in Ann Kathrins Gesicht wenig lesen konnte, wiederholte sie die Summe: »Sechzehntausend Euro.«
»Und Sie haben das verhindert?«, fragte Ann Kathrin.
Jutta Breuer lachte bitter. »Ja, das kann man wohl sagen. Sylvie sieht ganz normal aus, aber sie hat das Gemüt einer Neun- oder Zehnjährigen.«
Paul Winter räusperte sich. »Mit dem Liebeshunger einer erwachsenen Frau.«
Jutta Breuer schaute ihn zurechtweisend an. »Sie ist süchtig nach Liebe und männlicher Anerkennung. Die Männer fahren auf ihre sexuelle Distanzlosigkeit ab. Sie beuten sie finanziell und sexuell aus.«
Ann Kathrin Klaasen notierte sich den Namen Sylvia Kleine. Sie beschloss, selbst mit ihr zu reden.
»Was war Herr Speicher für ein Chef?« Sie schaute sich in der Runde um. Niemand antwortete.
»Oder wollen Sie lieber einzeln mit mir reden?«, fragte Ann Kathrin.
Sofort wollten alle sprechen, aber Jutta Breuer schnitt das mit einem Handzeichen ab. »Sie erfahren es ja sowieso. Ulf und ich hatten eine Beziehung.«
Jetzt brach sie innerlich zusammen. Wenn das hier gespielt war, dann war sie eine sehr gute Schauspielerin.
»Wir haben uns geliebt«, sagte sie und brach in Tränen aus, als hätte sie erst in dieser Sekunde erfahren, dass er nicht mehr lebte.
Ann Kathrin Klaasen kannte das. Oft verzögerte sich eine Reaktion, wenn jemand vom plötzlichen Tod eines Angehörigen erfuhr, der gerade noch voll im Leben gestanden hatte. Manchmal fingen die Menschen an zu putzen, zu lachen, Witze zu erzählen
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