OstfriesenKiller
wurde sie aufgerieben, ging sich selber verloren. Jetzt gestand sie es sich zum ersten Mal ein: Sie konnte nicht mehr.
Ja, sie beneidete ihre Freundin Ulrike, die nach der Geburt ihrer Tochter sechs Jahre zu Hause geblieben war und dann halbtags wieder zu arbeiten begonnen hatte, um sich selbst zu verwirklichen oder auch nur, um unter Leute zu kommen, während Sandra zur Schule ging.
Ann Kathrin Klaasen fuhr nach Hause zurück. Sie riss dabei die Augen weit auf, als hätte sie Angst, sonst vor Müdigkeit einzuschlafen. Sie musste auf den Straßenverkehr achten. Sie wollte nicht noch so einen Beinahe-Unfall erleben wie vorhin. Trotzdem fuhr sie nach kurzer Zeit nur noch instinktiv, nahm den Verkehr eigentlich gar nicht mehr richtig wahr. Es war ihr nie aufgefallen, doch jetzt sah sie es plötzlich ganz klar: Hero und ihr Vater hatten viele Gemeinsamkeiten.
Ihr Vater war ein begeisterter Amateurboxer gewesen. Er hatte sie oft zum Training und zu Kämpfen mitgenommen. Wahrscheinlich hatte er sich einen Jungen gewünscht, denn Frauenboxen war zu der Zeit noch völlig unbekannt. Manchmal hatte es mit ihrer Mutter Krach gegeben, die es nicht gut fand, wenn ihn das Kind zu so einer brutalen Sportart begleitete. Ihr Vater fand den Boxsport überhaupt nicht brutal. Für ihn war Boxen so etwas wie Schach spielen mit totalem Körpereinsatz. Aber davon wollte ihre Mutter nichts wissen.
Hero war auch ein Boxfan. Nicht aktiv, doch um einen WM -Kampf live verfolgen zu können, stand er schon mal nachts um drei Uhr auf und setzte sich vor den Fernseher.
Hab ich Hero geheiratet, weil er wie mein Vater war?, fragte sie sich. Ruhig, den Ausgleich suchend, loyal – doch sofort kochte die Wut wieder in ihr hoch. Von wegen loyal! Hero betrog sie nicht zum ersten Mal mit einer Klientin.
Sie fuhr zu schnell.
Noch bevor sie in den Flökershauser Weg einbog, wusste sie, dass sie auf ihren Mann und ihren Sohn treffen würde. Sie spürte deren Anwesenheit.
Der blaue Renault Megane stand mit offenem Kofferraum in der Einfahrt. Hero trug eine Kiste mit Büchern aus dem Haus und wuchtete sie ins Auto. Darin standen schon mehrere Taschen und Kisten.
Ann Kathrin unterdrückte den Wunsch, einfach gegen Heros Wagen zu fahren, um ihn endlich in die Wirklichkeit zurückzuholen und ihm zu zeigen, was er hier eigentlich anrichtete. Aber dann bemühte sie sich, ihren Twingo so hinzustellen, dass es nicht wieder so aussah, als würde sie ihrem Mann den Fluchtweg abschneiden. Bevor sie ausstieg, warf sie einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Sie wollte jetzt nicht wütend aussehen. Aber sie konnte nichts daran ändern.
Hero begegnete ihr mit gespielter Freundlichkeit. Er liebte das Fechten mit dem Florett. Tiefe Stiche, die weh taten. »Oh, du kommst schon nach Hause? Sind die Kriminellen uninteressant geworden?«
Eike schleppte eine viel zu schwere Kiste heraus. Ann Kathrin ergriff die Chance und fasste bei ihrem Sohn mit an, so als wolle sie ihm wirklich helfen.
»Vorsicht, Eike. Das ist doch viel zu schwer für dich.«
Eike wollte sich nicht helfen lassen. Er schüttelte sie ab und machte sich frei. »Nicht, Mama. Lass doch.«
Auch gegen seinen Willen half sie ihm, die Kiste im Auto zu verstauen. Obendrauf lag die Playstation, die sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie nahm das Spielzeug heraus und streichelte es ersatzweise, als würde sie ihren Sohn streicheln. Dabei schaute sie ihn an. Er blieb stehen, erwiderte ihren Blick aber nicht.
»Ist sie wirklich so nett – Papis Neue?«
Eike nickte. Ann Kathrin spürte seine Zerrissenheit. Es fiel ihm schwer, aber er hielt zu seinem Vater.
»Wusstest du es schon lange?«, fragte Ann Kathrin.
Wieder nickte Eike.
Sie drehte sich herum und biss in ihren Handrücken. »Warum hast du mir nie etwas gesagt? Ich meine, ich bin doch deine Mutter.«
Statt zu antworten, ging er zurück ins Haus. Sie folgte ihm.
»Eike!«
Im Flur drehte er sich plötzlich um. »Was weißt du denn schon über mich? Du hast doch sowieso nie Zeit!«
Dann rannte er die Treppe hoch in sein Zimmer.
Ann Kathrin wollte hinterher, aber Hero kam gerade von oben und hielt sie auf der Treppe fest. »Lass ihn. Es ist schon schwer genug für ihn. Er versucht doch nur, cool zu bleiben. Mach es uns allen doch nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist. Man muss auch mal loslassen können.«
Plötzlich versteifte sich ihre Schultermuskulatur. Ihr Nacken war wie ein Brett. Nur mühsam konnte sie den Kopf von links
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