OstfriesenKiller
diskutieren. Was würde er tun? Sie wusste die Antwort augenblicklich: Er würde bei Sylvia bleiben.
»Wann hast du Tim kennengelernt? Lebten deine Eltern da noch?«
Sylvia sprach mit vollem Mund. Eigelb tropfte auf ihr pinkfarbenes T-Shirt.
»Ja, klar. Wir haben uns beim Bogenschießen kennengelernt.«
Ann Kathrin hatte Mühe, ihre Verstörung zu verbergen. »Beim Bogenschießen?«
»Ja, ich war im Verein. Da übt man sich zu konzentrieren und so. Mein Papa meinte, das sei unheimlich wichtig für mich. Hat dann aber keinen Spaß mehr gemacht.«
Sylvia entdeckte den Eigelbfleck auf ihrem T-Shirt und zog es einfach aus. Ann Kathrin war fast ein wenig erleichtert darüber. Mit diesem T-Shirt wäre sie nicht gerne mit ihr durch die Stadt gelaufen.
»War Tim denn gut?«
»Und wie! Der Tim hat sogar an Meisterschaften teilgenommen. Aber ich glaube, er hat nicht gewonnen. Der ist ein Angeber. Man weiß nie, ob man ihm glauben kann.«
Sylvia hatte ihr Ei aufgegessen. Mit nacktem Oberkörper lehnte sie sich auf dem Stuhl so weit zurück, dass er nur noch auf zwei Beinen stand. Dann stützte sie ihre Füße an der Tischplatte ab und wippte hin und her.
»Ich weiß genau, was du jetzt denkst, Ann.«
»Was denke ich denn?«
»Du denkst, der Tim hat den Paul umgebracht.«
Ann Kathrin befürchtete, Sylvia könne jeden Moment mit dem Stuhl umfallen.
»Nun, es muss ein sehr guter Bogenschütze gewesen sein. Glaubst du denn, dass er es war? Hatte er einen Grund?«
Sylvia schob den Teller mit den Füßen zur Seite, und Ann Kathrin fragte sich, ob sie morgens auch so am Frühstückstisch saß, wenn sie mit den Männern frühstückte, die sich ja offenbar darum drängten, hier übernachten zu dürfen.
»Die konnten sich nicht leiden.«
»Ach, sie kannten sich also?«
Sylvia hob die Beine hoch und federte nach vorne. Jetzt stand der Stuhl wieder auf allen vier Beinen. Sie kniete sich auf den Stuhl und legte ihren Oberkörper auf dem Tisch ab. Dann stützte sie den Kopf in beide Hände und grinste: »Na klar. Die waren eifersüchtig aufeinander.«
Jetzt sprang Sylvia auf, kasperte durch den Raum, sprang von einem Bein aufs andere, zog Grimassen und plapperte drauflos: »Ja, ja, ja, ich weiß, was du jetzt sagen willst. Ja, ja, ja, es stimmt – ich hatte was mit beiden. Na und? Wenn seine Lioba es ihm nicht richtig macht, dann ist sie es selber schuld, wenn er zu mir kommt.«
Sie begann hysterisch zu lachen: »Männer müssen gemolken werden wie Kühe!«
Sylvia machte einen Radschlag in der Küche. Schon stand sie wieder auf beiden Beinen und kicherte: »Ja, wie Kühe, genau so.« Sie sah das entgeisterte Gesicht von Ann Kathrin. »Das tut denen sonst weh. Wenn die Kühe nicht gemolken werden, dann werden die Euter ganz dick. Die platzen denen fast. Dann brüllen die vor Schmerzen.«
»Und du meinst, bei Männern ist das genauso?«
»Klar«, nickte Sylvia.
»Wer hat dir das erzählt? Darauf bist du doch nicht selbst gekommen, oder?«
Sylvia blieb starr stehen. Sie dachte nach. Abrupt drehte sie Ann Kathrin den Rücken zu. Sie suchte nach einer klugen Antwort. Sie wollte ihre neue Freundin mit ihren Lebensweisheiten verblüffen. Dann wirbelte sie herum, zeigte auf Ann Kathrin und keifte: »Ich bin nicht blöd, nur weil ich behindert bin! Wenn die anderen so toll sind und ich so blöd, warum kommen ihre Männer dann immer zu mir?« Sie setzte sich wieder auf den Stuhl und trank ihren kalt gewordenen Kaffee mit einem Zug leer. »Meinst du, die Pia macht es dem Ludwig noch richtig?«
Natürlich wusste Ann Kathrin darauf keine Antwort.
»Ich meine, die ist doch jetzt schwanger. Da hat sie doch bestimmt gar keine Lust mehr auf so was, oder? Der Paul hat gesagt, als seine Frau schwanger war, sei fast ein halbes Jahr lang nichts mehr gelaufen. Der Arme. Dem sind bestimmt fast die Eier geplatzt.«
»Hat er dir das gesagt, Sylvia?«
Sylvia zögerte einen Moment, dann nickte sie.
Ann Kathrin fühlte sich von der Zeit gedrängt. Natürlich gab es vor der großen Regenbogen-Demonstration noch eine Einsatzbesprechung. Sie musste dabei sein, aber sie konnte Sylvia schlecht mit dorthin nehmen. Sie hatte keine rationale Erklärung dafür, aber sie hatte so ein Gefühl, als könnte eine Katastrophe passieren, wenn sie Sylvia jetzt allein ließ.
Sie sagte die Einsatzbesprechung telefonisch bei Ubbo Heide ab. Die Planung der Einsatzkräfte, die Sicherheit der Redner und der Schutz der Demonstration waren ohnehin nicht ihre
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