Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
besser, Frau Müller«, sagte Ann Kathrin sanft, aber die Mutter bewegte sich nicht. Sie sah Ann Kathrin nicht an, sie schien ganz in sich versunken zu sein, als sei ihr Verstand in einem Nebel verschwunden.
Ann Kathrin berührte die Frau vorsichtig an der Schulter und ließ ihre Hand dann langsam weiter zum Baby gleiten.
Gundula Müllers Körper zitterte. Es war ein tiefes Zittern, von innen heraus, als wolle sich etwas mit einem gewaltigen Schrei lösen. Doch der Schrei kam nicht. Stattdessen würgte die Frau.
Vorsichtig, mit sehr langsamen Bewegungen, löste Ann Kathrin Ina aus den Armen der Mutter. Sie wagte noch nicht, den Gedanken auszusprechen, doch vermutlich wäre es für das Kind besser, die nächsten Tage in einer Pflegefamilie zu verbringen.
Ann Kathrin hatte einen guten Draht zum Jugendamt. Es gab Familien, die bereit waren, Kinder aufzunehmen, wenn zum Beispiel die alleinerziehende Mutter plötzlich ins Krankenhaus kam, und die vom Jugendamt geschult wurden, um in Krisensituationen für ein Kind da zu sein. Allerdings hatte sie Angst, Gundula Müller würde völlig ausrasten, wenn sie ihr jetzt diesen Vorschlag unterbreitete, deshalb schwieg sie lieber noch und überlegte, ob es einen anderen Weg gab.
Überhaupt machte sie sich Sorgen darum, die Familie einfach so hier zurückzulassen. Die sahen aus, als könnten sie sich jeden Moment gegenseitig zerfleischen.
Wie brüchig doch so ein Familiengeflecht ist, dachte sie. Jeder hat Leichen im Keller. Es gibt so viel Ungesagtes, das verschwiegen werden muss, damit alles weiter funktioniert. Und so eine Entführung bringt natürlich alles Dunkle ans Licht. Jede Leiche wird aus dem Keller gezogen und von allen Seiten betrachtet.
Gut ausgehen konnte so etwas ihrer Erfahrung nach kaum. Selbst wenn sie das Kind fanden – danach würden die Beziehungen der Menschen untereinander in Schutt und Asche liegen. Glühendes Misstrauen brannte alles nieder.
So eine Familie kam ihr vor wie ein dunkler Wald voller trockenem Holz nach einem langen, heißen Sommer. Das Verbrechen flog dann wie eine brennende Fackel hinein …
Inas Lippe zitterte. Das Kind roch säuerlich und nach Azeton, so als würde es austrocknen.
»Wann hat die Kleine zum letzten Mal getrunken?«, fragte Ann Kathrin.
Gundula sah sie an und wusste die Antwort nicht. Dann blickte sie hilfesuchend zu Lucy.
»Ich wollte ihr gerade eigentlich einen Fencheltee machen, als Sie kamen.«
Ann Kathrin sagte es so, als käme ihr die Idee genau in diesem Moment und sie würde sich selbst darüber freuen: »Jeder Mensch kann verstehen, wenn Sie sich im Augenblick überfordert fühlen. Wir könnten eine Kinderpflegerin bitten, Sie zu unterstützen. Wir haben auch einen guten Psychologen, der in Krisensituationen wie diesen …«
Gundula Müller stand auf und bewegte sich steif in Richtung Toilette. Ihre Arme hingen an ihr wie leblose, angenähte Stoffstücke. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Das wollen wir nicht. Wir brauchen keine Hilfe. Wir kommen alleine klar.«
Sie machte noch einen Schritt und brach dann zusammen.
Jetzt guck dir doch an, wie das aussieht! Du hast alles vollgekotzt! Wer soll das denn wegmachen? Glaubst du, es macht mir Spaß, diese säuerliche Brühe aufzuwischen?
Du vermisst dein Schwesterchen, das ist es, stimmt’s? Du willst mich gar nicht wirklich ärgern. Du bist doch eigentlich ganz lieb, du willst nur nicht länger getrennt sein. Ist doch klar. Ihr seid Zwillinge. Zwillinge gehören zusammen. Ich werde dein Schwesterchen holen, und dann wird alles gut …
Noch bevor Charlie Thiekötter, der Computerspezialist der ostfriesischen Kripo, auftauchte, erhielt Lucy Müller den zweiten Anruf des Erpressers. Ann Kathrin stand nur einen halben Meter von ihr entfernt.
Lucy stellte auf Ann Kathrins Hinweis das Handy auf volle Lautstärke, sodass alle im Raum mithören konnten. Ann Kathrin hoffte, dass einer der Beteiligten die Stimme erkennen würde.
Gundula lag inzwischen auf dem Sofa, die Füße auf eine Kissenpyramide hochgebettet und einen nassen Lappen auf der Stirn. Ihre Lippen waren noch blass, aber sie war wieder klar orientiert zu Zeit und Raum.
Sie versuchte aufzustehen, als sie die Stimme des Anrufers hörte.
»Wie sieht’s aus? Ist das Geld bereit?«
»Ich hab’s meiner Mutter gesagt«, antwortete Lucy mit bebender Stimme. »Ich selbst hab keine Zweihunderttausend und sie auch nicht.«
Die Hände von Thomas Schacht krallten sich in die Sessellehne,
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