Ostfriesensünde
Sie sich das bieten? Macht es Ihnen Spaß, wie ein Hündchen vor ihm herumzukriechen? Ja, vielleicht hatte er mal Macht über Sie, aber das ist vorbei! Hier ist Deutschland! Spiekeroog! Ostfriesland! Hier wurde die Sklaverei vor Jahrhunderten abgeschafft. Sie sind ein freier, denkender Mensch! Geben Sie ihm nicht so viel Macht über sich!«
Die Siebenschwänzige Katze zischte durch die Luft und traf Ann Kathrins Gesicht. Die Riemen hinterließen feurige Blutspuren auf ihrer Haut.
Ann Kathrin griff sich unwillkürlich ins Gesicht: »Sie Schwein! Sie erbärmliches Schwein!«, schrie sie. Alle Vernunftgründe, warum es sinnlos war, ihn anzugreifen, ihr Respekt vor der Smith & Wesson mit der Magnummunition, waren wie ausgelöscht. Sie ging kreischend auf ihn los und es gelang ihr, ihm die Peitsche zu entreißen, aber dann spürte sie die kalte Mündung des Revolvers an ihrer Schläfe.
»Schieß doch, du Arschloch«, sagte sie. »Schieß doch.«
Ansgar hatte den Mann schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Er war ihm unheimlich. Er hatte etwas in seinem Blick, das machte Ansgar Angst. Er kam manchmal zum Rattenloch und blieb dann so lange, wie einmal »Löwenzahn« dauerte oder eine CD . Beim letzten Mal war er nur kurz geblieben, so lange wie ein Piratenlied.
Ob der Mann den Geist fütterte? Hatte er ihn befreit oder hielt er ihn gefangen?
Ansgar musste noch einmal hin. Er würde diesmal nicht über das Brett balancieren, sondern den Weg über den Sandberg wählen, der bis zum Fenster hoch war. Dort konnte er reinklettern. Von der Terrasse aus sah Mama das nicht. Das Fenster lag an der anderen Seite, außerdem hatte Mama so viel zu tun. Sie saß am Computer und chattete mit ihrer Freundin. Ansgar fand das blöd, aber seine Mama bekam rote Wangen dabei und rauchte vor Aufregung, obwohl Papa dagegen war, dass im Haus geraucht wurde.
Sie bemerkte nichts, als Ansgar durch den Garten zum anderen Grundstück lief.
»Hallo! Hallo! Judith, bist du noch da?«
Dr.Gaiser wusste zunächst nicht, ob er die Stimme wirklich hörte oder ob sein Verstand ihm einen Streich spielte. Begannen die Halluzinationen?
»Ja! Ja, ich bin hier! Wer ist da?«
»Ich bin doch der Ansgar. Bist du ein neuer Geist?«
Es war eine Kinderstimme. Ein Junge.
»Nein, ich … ich bin kein Geist, ich bin Arzt. Ein Doktor. Ich heiße Gaiser.«
»Wo ist die Judith?«
»Kennst du Judith?«
»Ja, wegen der bin ich doch wiedergekommen. Die Judith hat gesagt, sie ist ganz alleine hinter der Wand. Wo kommst du denn her?«
»Ansgar, wie alt bist du?«
»Fünf.«
»Ansgar, ich brauche Hilfe. Du musst Hilfe holen. Lauf zu deinen Eltern und erzähle ihnen, dass Dr.Gaiser aus Leer hier eingesperrt ist. Kannst du das behalten, Ansgar? Dr.Gaiser aus Leer.«
»Ja, das kann ich.«
»Dann lauf schnell zu deinen Eltern und sag es ihnen, Ansgar. Bitte, beeil dich!«
»Das geht nicht!«
»Wie, das geht nicht?«
»Ich darf doch hier nicht hin.«
»Aber … das ist jetzt nicht wichtig. Deine Mutter wird nicht sauer auf dich sein. Deine Eltern werden stolz auf dich sein, Ansgar. Ganz sicher.«
»Nein, du lügst. Und wo ist die Judith?«
Wie soll ich dem Jungen das erklären? »Ich … ich fürchte, sie ist tot.« – »Geister sterben nicht!«
Dr.Gaiser hatte im Laufe der Jahre gelernt, Frauen auch die schlimmsten Diagnosen beizubringen. Er konnte Menschen in Krisensituationen auffangen und begleiten. Er war ein Meister der richtigen Worte, galt als einfühlsam und sensibel, aber im Umgang mit Kindern kam er sich ungelenk vor. Ihm, dem großen Frauenversteher, fehlte jeder Zugang zu Kindern. Damit er mit Menschen klarkam, brauchten sie schon eine Schulbildung. Am besten Abitur.
»Bitte Ansgar, lauf nicht weg. Wenn du mir hilfst, hier rauszukommen, dann werde ich dich reich belohnen. Was wünschst du dir? Ein Fahrrad? Du bekommst es – kein Problem!«
Also doch, dachte Ansgar, wie beim Flaschengeist!
»Wie viele Wünsche habe ich frei?«, fragte Ansgar.
»Sag mir einfach, was du dir wünschst, und du wirst es bekommen.«
»Alles?«
»Ja, alles. Aber bitte, bitte hol Hilfe!«
Rupert hatte eine alte Geschichte über Henn ausgegraben. Eigentlich längst überall gelöscht, vergessen und vorbei, doch ein Kollege aus Bremerhaven erinnerte sich an diese zwanzig Jahre alte Geschichte. Er war als Spezialist fürs Maurerhandwerk zur SOKO gekommen. Irgendwer fand es witzig, ihn, den ehemaligen Maurer, der über den zweiten Bildungsweg zur Kripo
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