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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Junge, Ansgar. Böse und gemein. Wenn du mich nicht hier rausholst, dann … Nein, nein, verzeih, mein Junge, das war nicht so gemeint! Ich bin nicht so. Ich … ich … kann Kinder gut leiden. Es sind nur die Nerven, und ich habe Hunger und Durst. Ich … Ansgar? Bist du noch da?«
    »Ich bin nicht Ansgar, du Depp!«
     
    Der Junge konnte nicht weit weg wohnen. So wie Gaiser ihn ansprach, musste er im Vorschulalter sein. Typisch für Gaiser, dem Kind zu drohen und aus der Haut zu fahren.
    Aber das Kind würde ihn über kurz oder lang verraten. Er stieg die Treppe zum oberen Stock hoch und sah aus dem Fenster in den Garten gegenüber. Der Kleine auf der Schaukel guckte zu ihm hoch.
    Das muss er sein, dachte er.
    Er winkte das Kind stumm zu sich. Ansgar sprang von der Schaukel. Er trug kurze Hosen und hatte ein großes Pflaster am Knie. Der Junge lief auf das Grundstück zu, aber dann rief seine Mutter ihn.
    »Ansgar! Deine Lieblingsspaghetti sind fertig!«
    Ansgar rannte über die offene Terrassentür ins Haus.
    Er fragte sich, was er jetzt tun sollte. Er hatte noch nie ein Kind umgebracht, es erschien ihm irgendwie widernatürlich. Überhaupt wehrte er sich gegen den Gedanken, Menschen umgebracht
zu haben. Er führte sie zu sich selbst, befreite ihre Seelen. Er war kein Mörder! Er war ein Retter, ein Befreier. Seine Arbeit war sauber und klar. Sie würde später Anerkennung und Beifall finden, wegen ihrer reinen Konzeption und ihrer tadellosen Gesinnung.
    Das hier jetzt, das war schmutzig. Unfein. Ungeplant. Ein Schaden am Rande. Wenn man die Größe seiner Aufgabe betrachtete, war es ein Furz im Wind. Er musste es tun, um der Sache willen. Oder sollte er es darauf ankommen lassen, sich nach dem Tod des Kinderschlächters den Behörden zu stellen? Aber warum? Er hatte noch genügend sündige Frauen auf seiner Liste, die bestraft werden mussten. Solange er in Freiheit war, lebten sie alle in Angst und Schrecken, und das war gut so.
    Er ging runter in den Garten des Nachbarhauses und sah durch die Terrassentür in die Essküche. Ansgar saß seiner Mutter gegenüber und wippte mit den Beinen auf dem viel zu großen Stuhl.
    Das Weiße in ihren Augäpfeln war von geplatzten roten Äderchen durchzogen. Ihre Nase geschwollen. Sie hatte Heuschnupfen. In diesem Jahr waren besonders aggressive Pollen in der Luft.
    Ansgar hielt den Kopf nah über den Tellerrand und schlürfte die Spaghetti in seinen Mund. Ihm machte das Spaß. Seiner Mutter nicht. Sie ermahnte ihn, ordentlich zu essen, wie ein großer Junge. Da schlürfte er noch lauter. Das Nudelende patschte gegen seine Nase, bevor es in seinem Mund verschwand. In seinem Gesicht klebten rote Ketchupsprossen. Die Mutter wischte sein Gesicht ab. Er wehrte sich. Dann schnitt sie die Spaghetti in kleine Stücke.
    »Manno!«, protestierte Ansgar und verschränkte die Arme trotzig vor der Brust. »Dann ess ich nix mehr!«
    Aber seine Mutter reagierte nicht. Sie sah verwundert den Mann an, der plötzlich in der Essküche stand, als sei er aus
dem Kühlschrank gekommen. Ihre Finger umklammerten das Messer, mit dem sie gerade noch die Spaghetti geschnitten hatte. Die Knöchel ihrer Hand wurden weiß.
     
    Ann Kathrin kam sich vor wie ein Stück Vieh auf der Schlachtbank. Sie musste etwas tun, egal, wie sinnlos es war. Sie wippte in der Liebesschaukel hin und her, bis ihre Füße mit dem letzten Schwung die Spiegel an der Decke berührten.
    Eine kleine Hoffnung gab es. Sie stellt sich vor, wenn sie nur genügend heftige Bewegungen machte, würde der Dübel irgendwann aus der Decke brechen. Ihr konnte dabei wenig passieren. Unter ihr war das Bett. So könnte sie sich von den Lederriemen befreien und dann … Sie bedauerte die letzte Diät sehr, und durch den Stress der letzten Tage hatte sie noch einmal abgenommen. Jedes Kilo mehr wäre jetzt sehr hilfreich gewesen.
    Ihr Leben hing zwar nicht an einem seidenen Faden, aber an ein paar Lederriemen und der Tragfähigkeit eines Dübels.
    Sie versuchte es vielleicht eine Stunde lang oder zwei, dann konnte sie nicht mehr. Die angestaute Hitze im Raum war unerträglich. Ihr fehlte Flüssigkeit und ihr war schwindlig von der vielen Schaukelei. Alles um sie herum begann sich zu drehen und dann kamen die Spiegelwände langsam näher. Sie hing jetzt ganz ruhig in der Schaukel, bewegungslos, fast ohnmächtig, nur noch flach atmend.
    Zwei Mücken brummten an ihrem rechten Ohr. Kraftlos schüttelte Ann Kathrin den Kopf. Dann sah sie eine der

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