Ostfriesensünde
Ruhe hier im Garten wirkte Ann Kathrin aufgedreht.
»Ich wette, dass nur noch einer übrig ist. Der Hauptverbrecher. Die Subsau. Der Mann, der meinen Vater getötet hat. Aber ich habe jetzt ein Packan. Ich komme ihm näher.«
Weller hakte noch einmal nach. Die Nachricht regte ihn auf. Er konnte nicht länger unter den Birken sitzen. Er stand auf und ging zu dem prächtigen Kirschbaum. Er hörte Ann Kathrin zu, sagte aber nur »hm« und »aha« und aß die besten Kirschen seines Lebens. Die Steine spuckte er in seine rechte Hand. Das Handy hielt er mit der linken ans Ohr. Dann, als das Pflücken mit der vollen Hand zu umständlich wurde, warf er die Steine einfach über seine Schulter nach hinten.
Die volle Ladung traf Rieke Gersema, die Pressesprecherin der Polizeiinspektion Aurich, die eigentlich gekommen war, um genau das zu verhindern, was jetzt stattfand. Rupert gab Interviews und erzählte, wie sie fand, einen unerträglichen Schwachsinn. Weil sie nicht gebraucht wurde, hatte sie sich beleidigt in den Garten zurückgezogen und dachte darüber nach, sich einen guten Mann zu suchen, Kinder zu bekommen und die nächsten Jahre auf Spielplätzen, in Krabbelgruppen und bei Elternabenden im Kindergarten zu verbringen.
Wellers Kirschensteine holten sie aus ihren Überlegungen zurück. Der bemerkte das Missgeschick nicht einmal, sondern sprach gerade bedeutungsschwanger ins Handy: »Trau nie dem Offensichtlichen.«
Einen Moment schwieg Ann Kathrin. Er fragte sich schon, ob die Verbindung unterbrochen worden war, da sagte sie sauer: »Was soll das heißen? Trau nie dem Offensichtlichen? Das ist doch nicht von dir! Wer hat das gesagt? Goethe zu Schiller? Oder nein, warte! Dein Daniel C. Henrich zu diesem Habermas?«
»Nein. Sherlock Holmes zu Watson«, gab Weller kleinlaut zu.
Rieke Gersema hatte das Gespräch mitgekriegt, weil Weller das Handy immer noch auf maximale Lautstärke gestellt hatte. Vorhin im Auto hatte er das gebraucht, weil er bei dem Lärm sonst nichts hörte. Das Ding funktionierte jetzt immer noch wie eine Freisprechanlage.
Ein Kirschkern war an Rieke Gersemas Hals heruntergerutscht und in ihrem Ausschnitt verschwunden. Sie spürte die fleischigen Kirschreste an ihrer Brust und wühlte mit beiden Händen in ihrer weißen Rüschenbluse herum, als Weller sich umdrehte.
»Ann, ich kann jetzt nicht länger. Ich muss … wir sind bei diesem … Frauenarzt.«
»Alle Frauen in seiner Kartei sind potentielle Opfer«, sagte Ann Kathrin noch, aber da steckte Weller sein Handy schon ein.
Weller sah, wie verrenkt Rieke Gersema dastand, und die roten Flecken an ihrem Hals und an ihrer Bluse ließen ihn erahnen, was geschehen war.
»Kann ich dir helfen?«, fragte er schuldbewusst.
»Nein!«, erwiderte sie hart und zupfte sich die Bluse aus dem lachsroten Rock.
Weller ging auf die Terrasse der Villa. Er musste an das schöne Backsteinhaus denken, das er und Ann Kathrin im Distelkamp in Norden bewohnten. Es war weniger protzig, aber dafür irgendwie gemütlicher, fand er.
Er wurde jetzt Zeuge, wie Rupert seine kriminalistische Erfahrung bei der Befragung von weiblichen Personen ins Gespräch brachte, um endlich einen Platz in der SOKO zu ergattern, die ja nun Dank seiner Hilfe kurz vor der Aufklärung des Falles stand.
Zum Glück hatten sich die Presseleute inzwischen verabschiedet, nur ein gewisser Holger Bloem vom Ostfrieslandmagazin, der eigentlich einen Bericht über die schönsten Gärten Ostfrieslands machen wollte und zusammen mit dem Fotografen Martin Stromann angereist war, um die Atmosphäre dieses kleinen Paradieses einzufangen, rasselte mitten in den Kriminalfall und nahm die Chance wahr, für den Kurier über die Entführung zu berichten.
Stromann fotografierte die aufgeregte Ehefrau. Bloem ging auf die Terrasse zurück. Rupert hielt ihn für ein Mitglied der SOKO , deshalb sprach er ungeniert weiter: »Also, es kommt bei einer Befragung darauf an, herauszufiltern, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Dazu brauche ich keinen Lügendetektor. So ein Quatsch. Bei Männern sehe ich das am Gesicht. Hier unterhalb der Nasenwurzel zucken sie. Einige entwickeln da sogar Schweiß. Die Lippen verraten alles. Ich sehe Männern auf die Lippen, und sofort ist alles klar.«
»Und bei Frauen?«, fragte Weller bissig.
Rupert winkte die Männer näher zu sich heran, dann ließ er sie an seinem Geheimnis teilhaben: »Bei Frauen siehst du nichts im Gesicht. Die sind es gewöhnt, sich zu schminken und zu
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