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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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leise, hinter der Wand oder in der Wand. Eine Maus vielleicht oder eine Ratte.
    Er versuchte, die Kopfschmerzen zu ignorieren, und konzentrierte sich ganz aufs Lauschen. Nein, eine Maus war es nicht. Es war ein schleifendes Geräusch, als würde ein Körper langsam über den Boden gezogen. Eine Schlange vielleicht. Er drückte ein Ohr an die Wand, hinter der er das Geräusch wahrnahm. Das Atmen kam entweder von einem großen Tier oder … von einem Menschen!
    Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Steine.
    »Hallo! Hallo! Ist da wer?«
    Der Mörtel zwischen den Steinen fühlte sich fest an und trocken. Ganz anders als an der anderen Wand.
    Jetzt erst begriff er, dass ihn jemand eingemauert hatte.
    Er klopfte heftiger, die Verzweiflung gab ihm Kraft.
    »Hallo! Hallo! Ist da wer? Ich brauche Hilfe!«
    Für Judith Harmsen war das Atmen schwieriger geworden. Die zweite Wand schränkte die Luftzufuhr für sie ein. Jeder Atemzug brannte im Hals und in der Lunge.
    Der Fleck an der Wand, den sie immer noch ableckte, wurde wieder feucht. Vielleicht ein defektes Rohr oder eine Stelle an der Wetterseite des Gebäudes, wo der Regen durch die Ritzen und Risse drang. Was hätte sie für ein bisschen Licht gegeben, um die Wand genau zu inspizieren.
    An einer rauen Stelle sammelte sich in regelmäßigem Abstand ein Tropfen. Wenn sie ruhig von eins bis hunderteinundzwanzig zählte, dann war es bei dreiundneunzig soweit und ab dann wurde der Tropfen immer dicker. Aus Sorge, er könnte herunterfallen und ihr verlorengehen, leckte sie ihn bei hundertzwanzig ab.
    In den Stein waren scharfe Dinge eingearbeitet. Sie konnte sie nicht sehen. In ihrem Mund fühlten sie sich an wie Glassplitter mit Sand oder zerbrochene Muschelschalen. Ihre Zunge kam ihr vor wie ein zerfetzter Schwamm. Doch selbst das eigene Blut kam ihr gerade recht, um ihren Durst zu stillen.
    Entweder war nebenan ein Mensch in der gleichen Situation wie sie selbst, oder sie war inzwischen verrückt geworden. Sie suchte nach einer Möglichkeit herauszufinden, ob alles ein Produkt ihrer Phantasie war oder Wirklichkeit.
    Sie fragte ihn nach seinem Namen. Es war ein Mann. Dr.Gaiser. Sie hatte ihn kichernd, ja kichernd, gefragt, ob er Irrenarzt sei. Als er »Gynäkologe« geantwortet hatte, meldete sich ein Stückchen aus ihrem Erinnerungspuzzle, das sie eigentlich lieber vergessen wollte.
    »Ich kannte mal einen Dr.Gaiser in Leer«, sagte sie.
    »Ja! Das bin ich! Ich! Ich bin das!«, schrie er.
    Sie stellte sich vor und streichelte dabei die Wand, als sei sie sein Oberarm.
    Er log, als er behauptete, sich an sie zu erinnern, aber das
reichte aus, um sie weinen zu lassen. Ja, sie hatte tatsächlich noch einen Tränenvorrat. Sie leckte sich die kostbare salzige Flüssigkeit von der Oberlippe. Aber den neu entstandenen Wassertropfen am Sandstein verlor sie. Sie verwünschte sich deswegen. Was für eine dumme, blöde Gans musste sie sein, wenn sie dieses Geschenk Gottes ungenutzt ließ. Welche Verschwendung! Und Verschwendung konnte sie sich nun wahrlich nicht mehr leisten.
    Als Kind hatte sie mal mit ihrem Hund Ajax gemeinsam auf dem Boden gelegen und aus einer Pfütze getrunken. Sie machte es dem treuen Tier nach. Die Zunge hinein und dann losschlabbern.
    Ach herrjeh, hatte ihre Mutter deswegen ein Theater veranstaltet! Sie sollte sogar vorbeugend Antibiotika nehmen, was ihr Vater zum Glück zu verhindern wusste. Ihre Mutter war ein Antibiotika-Fan. Sie hatte ständig Angst vor unsichtbaren Bakterien und Krankheitserregern. Sie schlug immer gleich mit der großen Medizinkeule drauf. Das Bad wurde täglich so intensiv desinfiziert, dagegen war jeder Operationsraum im Krankenhaus ein Bakterienmutterschiff.
    Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter versuchen würde, dieses Gefängnis keimfrei zu schrubben und auf Hochglanz zu bringen. Der Gedanke hatte etwas Erheiterndes an sich. Waren das körpereigene Morphine? Sie begann abwechselnd zu kichern und dann wieder zu weinen. Sie empfand ihre Situation auf eine irre Weise als lustig, skurril und dann wieder als einen Horrortrip.
     
    Ann Kathrin ging auch noch ein drittes Mal zum verabredeten Ort, um Kim 12 zu treffen. Sie schwor sich, dies sei der letzte Versuch, länger wollte sie sich nicht an der Nase durch den Ring führen lassen.
    Sie befürchtete, Kim 12 sei ein Mann. Sie hatte ihre Heckler & Koch P 2000 nicht in der Handtasche, sondern hinten im
Hosenbund. So hatte sie die Waffe noch nie getragen. Es war unbequem, aber genau das

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