Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
so einen Abend. Rainer bevorzugte klassische Braten und kräftige Eintöpfe. In den ersten Wochen ihrer Ehe war sie abends statt mit dem obligatorischen Roman mit einem Kochbuch ins Bett gegangen.
Hatte sie nicht noch Rouladen im Gefrierschrank? Zu spät, Rainer hatte ja bereits einen Mordshunger. Mordshunger? Arme Katja! Sie stand hier und bemitleidete sich … wegen nichts. Und Katja saß allein zu Hause und wusste, dass ihr Mann niemals wiederkommen würde – weil jemand ihn ERMORDET hatte.
Nachdem das Essen heiß war, musste Solveigh dreimal rufen, bevor Rainer reagierte und sich das Tablett mit seinem Abendbrot direkt in sein Arbeitszimmer bestellte. Es stand wohl schlecht um ihn, wenn er Essbares in die Nähe seiner wertvollen Fossilien ließ. Das Beste an ihrem Mann war seit geraumer Zeit sein Hobby, dachte Solveigh böse, als sie das Tablett vorsichtig auf einer Ecke des Arbeitstisches abstellte, ohne die aufgeschlagenen Fachbücher oder gar das versteinerte Irgendwas zu berühren, das im Lichtschein der Schreibtischleuchte lag.
»Das ist ein vollständiger Geschiebetrilobit, kristalliner Kalk aus der Ludibundus-Stufe, Ludibunduskalk, wie es aussieht«, murmelte ihr Mann. »Aber das interessiert dich ja sowieso nicht.« Er griff zur Gabel, spießte ein Stück Hühnerfleisch auf und führte es zum Mund. Die Erleichterung, dass er Hühnerfrikassee kommentarlos akzeptierte, wurde durch sein theatralisches Aufheulen zunichtegemacht. Er spuckte das Fleischstück neben seinem Teller auf das Tablett und fächelte sich demonstrativ Luft in den Mund. »Willst du mich umbringen! Das kocht ja noch! Wie kannst du mir das vorsetzen?«
»Tut mir leid. Hier ist ein Schluck Bier. Ich wusste nicht, dass es so heiß ist.«
Er trank in gierigen Zügen und betastete dann wehleidig seine Zunge. »Du wusstest es nicht? Du haust es mir von der Mikrowelle direkt vor die Nase und weißt nicht, dass es noch kocht? Ich verstehe nicht, was in deinem Kopf vor sich geht, Solveigh!«
»War wirklich keine Absicht«, murmelte sie. Wie blöd war denn das? Natürlich war es keine Absicht von ihr gewesen. Sollte er doch selbst auf sich aufpassen! Beruhigt sah sie, dass er nun doch Gabel für Gabel in sich hineinschaufelte, auf jeden Bissen demonstrativ pustend, wie ein kleines Kind. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und hielt wohlweislich Abstand zu den Vitrinen, in denen Hunderte Fossilien auf grünem Samt präsentiert wurden, ohne dass diese außer ihr und Rainer jemals ein Mensch zu Gesicht bekam. Ursprünglich hatte sie sein Hobby sympathisch, sogar interessant gefunden. Ein Mann, der abends nicht in die Kneipe ging, sondern Donnerkeile oder versteinerte Seeigel und Krabben begutachtete. Mittlerweile wünschte sie, sie hätte die kleine Wohnung mal einen Abend lang für sich.
»Das mit dem Klassentreffen kannst du dir übrigens gleich abschminken«, sagte er, nachdem sein erster Hunger gestillt war.
»Ich weiß von keinem Klassentreffen«, antwortete sie überrascht. »Wie kommst du darauf?«
»Irgendwer hat vorhin hier angerufen. Hat nach dir gefragt, ob du mit Mädchennamen Pahl heißt.«
»Aha. Und wer war das?«
»Bin ich deine Sekretärin? Ich will übrigens nicht, dass du zu so einer Veranstaltung gehst.«
»Warum denn nicht?«
»Bringt doch nichts, oder? Das habe ich auch am Telefon schon gesagt.«
Solveigh schwieg. Sie war neugierig. Ein unbekannter Anrufer. Etwas, das Abwechslung in ihren Alltag bringen könnte. Allerdings verband sie mit ihrer Schulzeit keine sehr glücklichen Erinnerungen. Sie starrte auf das Stück blass aussehenden Hühnerfleisches, das Rainer auf das Tablett gespuckt hatte und in dem noch ein Zahnabdruck von ihm zu sehen war, und überlegte, ob sie das Thema »Klassentreffen« vertiefen sollte. »Manchmal ergeben sich recht nützliche Kontakte auf solchen Treffen«, sagte sie.
»Ach ja? Für dich? Wofür das denn? Ich brauche Kontakte für meinen Beruf. Wir leben von meinen Kontakten und meiner Menschenkenntnis. Du brauchst nur deine Bücher.«
»Ich weiß nicht, warum du das immer so sagst …«, entgegnete sie verletzt.
»Wir kommen ja klar, Solveigh«, erklärte er gönnerhaft. »Machst du mir noch eine Portion Frikassee warm?« Er betonte das Wort »warm« und lächelte dabei scheinheilig.
»Sicher – auf dein eigenes Risiko …«, konterte sie. Solveigh fragte sich, wie sie es wagen konnte, ihm ironisch zu kommen. Katjas Einfluss! Rainer hatte wirklich eine gute Menschenkenntnis: Mit
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