Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
Schweres über die Steinplatten der Terrasse. Ein umgefallener Blumentopf? Sie hätte ihren Garten noch besser absichern sollen.
Schlafen konnte sie jetzt sowieso nicht mehr. Marianne Fierck schaltete die Nachttischlampe ein und setzte sich im Bett auf. Der vertraute Anblick ihres Dachzimmers beruhigte sie etwas. Sie schlüpfte in ihre Fellpantoffeln und zog sich einen Frotteebademantel über. Der Sturm hatte die kostbare Wärme, die tagsüber die kleinen Zimmer gemütlich machte, durch die Fugen und Ritzen hindurch in die Nacht hinausgeblasen. Marianne Fierck tastete sich die Treppe hinunter und ging in die Küche, um sich einen Becher Tee zu kochen.
Schuld an ihrer inneren Unruhe waren die Gedanken an die Uhlenburg. Sie musste loslassen. Die Mädchen waren fort und lebten ihr eigenes Leben. Bis auf Tamara, die hiergeblieben war – auf dem Kargauer Friedhof. Und Janet …
Warum hatte sie vergessen, der Kommissarin von Janets Unfall zu erzählen? Weil sie es selbst nicht wahrhaben wollte? Weil Janet immer ihr heimlicher Liebling gewesen war? Es war ihr tatsächlich gelungen, Schauspielerin zu werden. Marianne Fierck sah Janet noch immer vor sich, wie sie beim Krippenspiel im Heim mit glühenden Wangen die Jungfrau Maria gespielt und sich bitterlich beschwert hatte, dass sie zu wenig Text sprechen durfte … Später hatte sie eine Rolle in einer Fernsehserie bekommen. Doch Janet hatte sich nach ihrem Fortgang nie wieder bei ihr gemeldet, um zu berichten, dass sie es geschafft hatte. Irgendwer hatte ihr mal erzählt, dass Janet mit einer Frau zusammenlebte. Einer Griechin, die eine erfolgreiche Geigerin war. Es klang so, als hätte Janet es geschafft, sich von ihrer schwierigen Vergangenheit zu lösen.
Endlich kochte das Wasser. Marianne Fierck schüttete es über einen Beutel Melissentee, den sie in einen Steingutbecher gehängt hatte. Honig dazu? Dann würde sie anschließend ihre Zähne putzen müssen … also kein Honig. Sie setzte sich mit dem ziehenden Tee an ihren Sitzplatz am Küchenfenster und sah hinaus. Unheimlich, wie die Hauslaterne ihrer Nachbarn im Wind schwankte. Die Fenster im Haus der Gregorians waren alle dunkel. Kein Wunder, um diese Uhrzeit. Es wäre tröstlich gewesen, dort drüben ein Lebenszeichen zu sehen. Sie beförderte den tropfenden Beutel in ein Schälchen und probierte. Der Tee war noch zu heiß.
Sie musste der Kommissarin mitteilen, dass Janet Domhoff vor ein paar Wochen einen Unfall gehabt hatte und dabei ums Leben gekommen war. Auf Korfu, soweit sie sich erinnerte. Sie hatte einen Artikel darüber gelesen und es sofort verdrängt, weil es sie so traurig machte. Die Zeitung musste noch in der Altpapiertonne liegen. Sollte sie ihn der Polizistin nicht zeigen? Ging es sie überhaupt etwas an? War die Papiertonne in der Zwischenzeit geleert worden? Nein. Die kamen nur einmal im Monat, und die Tonne war erst halb voll. Marianne Fierck starrte in die Nacht hinaus. Wenn sie jetzt kurz raus zur Papiertonne ging, dann konnte sie gleich nachlesen, ob sie recht hatte. Sie erinnerte sich sogar, wie das Titelbild der Zeitung ausgesehen hatte: Es war ein Bild von einem neuen Löschfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr gewesen. Schlafen konnte sie jetzt ohnehin nicht.
Als sie im Bademantel durch den Garten zu den Mülltonnen ging, bereute Marianne Fierck ihren Entschluss. Sie bemühte sich, der leeren Straße, dem Wald und dem Wind, der an den Zweigen der Bäume zerrte, keine Beachtung zu schenken, aber sie fühlte sich einsam, nachts allein hier draußen – wie von aller Welt verlassen. Im Lichtkegel einer Taschenlampe fand sie endlich die richtige Zeitung. Sie lag unter Wurfsendungen und einer leeren Packung Filtertüten.
Zurück am Küchentisch, blätterte sie rasch, bis sie den Artikel gefunden hatte: Die Geigerin Maria Barlou kam auf Konzertreise nach Deutschland und spielte auch in der MUK in Lübeck. Unter dem Bericht stand das Kürzel BvO. Das musste Bernd von Ohlen sein, der Reporter war und in Kargau wohnte. Er hatte die Konzerttournee zum Anlass genommen, über Maria Barlous Lebensgefährtin Janet Domhoff zu berichten, die im September auf Korfu bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Es gab ein großes Foto der Geigerin bei einem ihrer Konzerte und eines von einem schlimm zugerichteten Autowrack. Der Bericht schloss mit der Feststellung, dass einigen Kargauern Janet Domhoff bekannt sein dürfte. Sie hatte einige Jahre ihrer Jugendzeit auf der Uhlenburg verbracht, bevor sie
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