Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
sie ein paar Minuten später das Arbeitslicht in der Ausleihe gelöscht, ihre Jacke und Tasche gegriffen und die Alarmanlage scharf gestellt hatte, fühlte sie sich schon wie eine Idiotin. Ihr Verhalten heute Abend war nicht gerade kompetent und souverän gewesen. Wahrscheinlich hatte ihre lebhafte Fantasie ihr einen Streich gespielt. Es war aber auch unheimlich hier, so ganz allein. Sie sollte nicht so viele Krimis lesen …
Solveigh wollte die Außentür aufschließen, aber die Tür war nur zugezogen und nicht zweimal umgeschlossen, so wie sie sie ihrer Meinung nach hinterlassen hatte. Verdammt, was bedeutete das? Fantasierte sie, oder hatte der Unbekannte, den sie gehört hatte, durch genau diesen Ausgang vor ihr die Bibliothek verlassen? War es doch wahr? Die Angst kroch ihr das Rückgrat hinauf bis zum Scheitel. Sie fühlte geradezu, wie sich ihre Haarwurzeln aufrichteten, in dem atavistischen und völlig lächerlichen Bestreben, für einen etwaigen Feind bedrohlicher auszusehen. Hastig und ohne sich noch einmal umzusehen, zog sie die schwere Glastür auf und eilte hinaus.
Der Eingang zur Stadtbibliothek sprang etwas zurück. Sie trat aus der Nische hervor und wandte sich eilig nach rechts in Richtung Königstraße. Dort gab es Geschäfte, Restaurants und Kneipen – dort waren Menschen. Eine dunkle Gestalt schoss hinter dem Mauervorsprung hervor und packte sie am Arm.
Solveigh schrie. Sie fühlte, wie sie unsanft gegen die Mauer gedrückt wurde, doch auch als sie das vor Wut verzerrte Gesicht ihres Mannes erkannte, konnte sie nicht aufhören zu schreien. Erst als sie den Schlag seiner Hand auf ihrer Wange fühlte, verstummte sie schockiert. Er hatte es schon wieder getan.
»Werd jetzt bloß nicht hysterisch!«, sagte er grob.
Solveigh fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. »Was machst du hier, Rainer? Du hast mir einen wahnsinnigen Schrecken eingejagt. Ich wäre beinahe an einem Herzschlag gestorben. Und mich dann auch noch ins Gesicht zu schlagen!«
»Schlechtes Gewissen? Ich wollte einfach mal sehen, wo du steckst. Ich wusste ja, dass du um neunzehn Uhr Feierabend hast, und als du nicht zu Hause ankamst, da dachte ich mir, ich sehe lieber mal nach.«
»Du wolltest mich abholen?«
»So kann man es auch nennen. Aber die verdammte Tür war zu, und drinnen war alles dunkel, bis auf so eine kleine Funzel hinten am Tresen.«
»Das ist mein Arbeitslicht, das du gesehen hast. Ich war heute die Letzte und habe noch die Post vorbereitet.« Warum sagte sie ihm nicht, was wirklich passiert war? Weil es sich lächerlich anhören würde, selbst in ihren eigenen Ohren?
»So nennt man das heute: Post vorbereiten … Erzähl keinen Mist! Da war niemand zu sehen. Wo, verdammt noch mal, warst du die ganze Zeit?«
»Ich habe noch einen Rundgang gemacht, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist, bevor ich die Alarmanlage scharf stelle. Ich dachte, ich hätte einen Vogel oder eine Maus gehört, was bedeutet hätte, dass verbotenerweise eines der Fenster offen steht.«
»So pflichtbewusst? Wissen die eigentlich, was die an dir haben?«
»Lass uns bitte jetzt nach Hause fahren, Rainer. Du bist doch mit dem Auto da, oder?«
»Was denkst du denn? Ich fahre doch nicht Proletencontainer! Vorher allerdings … er näherte sich mit dem Gesicht dem ihren. »Vorher möchte ich wissen, wer der Typ war, der kurz vor dir hier herausgekommen ist!«
»Was?«
»Das hättest du nicht gedacht, oder? Du hast geglaubt, ich wäre ganz einfach hinters Licht zu führen mit dieser Dummchen-Masche.«
»Rainer, ich war da mit niemandem zusammen. Ich hatte den Eindruck, dass sich jemand unerlaubterweise in der Bibliothek aufhielt. Deshalb war ich auch so schreckhaft, als ich hier rauskam. Ich dachte schon, ich hätte mich getäuscht, aber wenn du ihn auch gesehen hast …«
»Schöne Geschichte. Hast du dir fein zurechtgelegt, Solveigh, aber ich glaube dir kein Wort.«
Sie konnte es ihm fast nicht verdenken, so spät, wie sie damit herausgerückt war. Trotzdem, sie musste es wissen! »Rainer, bitte! Wie hat er ausgesehen?«
»Wie irgendjemand. Es ist dunkel hier, und er hatte es wohl sehr eilig, von dir wegzukommen, Schatz.«
Dabei beließ es Rainer zunächst. Schweigend chauffierte er sie nach Hause; er hielt ihr vor dem Haus sogar die Wagen- und die Haustür auf. Dieses für ihn untypische Verhalten, zusammen mit den beängstigenden Vorkommnissen in der Stadtbibliothek, versetzte Solveigh in eine höchst angespannte
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