Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
besitzt doch nichts. Pfeif die Leute zurück, das bringt hier nichts mehr. Wir räumen wieder ein, und dann machen wir ’nen Abflug.«
»Du denkst, ich kann es nur nicht ertragen, dass ich unrecht habe, und deshalb lass ich auch noch das Gelände durchforsten?«, fragte sie.
»Für den einen oder anderen hier fühlt es sich an wie Schikane«, meinte er mit Blick auf ein paar abseits stehende Männer, die immer häufiger an den Bus traten, um eine Zigarette zu rauchen oder leise miteinander zu reden.
»Irgendwo muss etwas sein«, beharrte sie. »Aber du hast recht. Die Leute sind müde und wollen nach Hause. So wird das heute nichts mehr. Gib mir mal deine Taschenlampe.«
Pia ging neben dem Bus in die Knie und leuchtete unter den Wagen.
»Siehst du was?«
»Noch nicht …« Sie legte sich auf den Rücken und robbte ein Stück unter den Bus, bis nur noch ihre Beine rausguckten.
»Willst du das nicht einem überlassen, der sich mit solchen Fahrzeugen auskennt?«
»Ich kenn mich aus mit diesem Typ Bus«, kam es dumpf von unten. »Ich hab selbst mal eine Zeit lang in einem 406er gewohnt. Baujahr sechsundsiebzig.« Eine Weile passierte nichts. Broders vermutete, dass Pia mit seiner Taschenlampe jeden verdammten Quadratzentimeter des Fahrzeugbodens kontrollierte. Er hörte, wie sie gegen Metall klopfte und dann leise fluchte, vermutlich weil ihr Rostflocken in die Augen gerieselt waren.
»Was macht Ihre Kollegin da unten?«, hörte er eine Stimme hinter sich.
Broders zuckte mit den Schultern. »Sie sucht.« Noch bevor der Beamte etwas darauf antworten konnte, waren ein dumpfes Geräusch und ein triumphierender Aufschrei zu hören. Pia kam mit dem Oberkörper unter dem Fahrzeug hervor und verlangte nach neuen Handschuhen. Broders fühlte sich wie die OP-Schwester, die die Tupfer reicht, doch die Neugierde, was Pia entdeckt hatte, überwog seinen Ärger. »Was hast du?«
»Wart’s ab!«
Broders und auch die übrigen Kollegen, die sich nun auf der Beifahrerseite des Mercedes-Busses eingefunden hatten, sahen zu, wie Pia mit einem länglichen Gegenstand, der in grauen Stoff eingeschlagen und mit Draht umwickelt war, unter dem Wagen hervorkam.
»Das hier war im linken U-Profil des Fahrzeugrahmens mit Draht befestigt. Ich bin aber ziemlich sicher, dass das nicht dort hingehört«, sagte sie ein wenig atemlos.
»Ich glaub’s nicht«, murmelte Broders, der erkannte, worum es sich handelte.
»Moment, ich habe noch etwas gesehen, und zwar in dem Hohlraum zwischen Tank und Fahrzeugboden«, sagte sie und war wieder verschwunden. Sie kam mit einer flachen hellgrünen Tupperdose in der Hand hervor. Ein paar Minuten später lag ein von seiner Stoffumwicklung befreites Gewehr vor ihnen auf der Plane. Eine Jagdbüchse, die sauber und dem Augenschein nach in einem sehr guten Zustand zu sein schien, was sie von allem unterschied, was heute sonst noch zutage gefördert worden war. »Eine Repetierbüchse der Firma Blaser«, sagte Pia. »Passt das mit der verwendeten Munition im Fall Feldheim zusammen?«
Broders zuckte mit den Schultern. Trotz seines Berufes interessierte er sich nicht für Waffen und hielt sich, wo er konnte, an den Spruch, dass die Waffe der Kriminalpolizisten das Wort sei. Pia versuchte, den fest sitzenden Deckel der Tupperdose mit ihren kalten Fingern zu öffnen. Als es ihr gelang, fiel zu ihrer Enttäuschung Kleinkram heraus, wie ein Kind ihn vielleicht in einer Schatzkiste zusammentragen würde. Eine gelbe Haarspange aus Plastik, in der noch ein dunkles Haar hing, ein rosafarbener Lippenpflegestift und ein zerrissenes Silberkettchen mit Kleeblatt-Anhänger. Dazu ein Foto. Pia drehte es um und hielt den Atem an. Das Licht von Broders’ Lampe fiel auf das Gesicht des Mädchens, deren lange zurückliegender Tod sie immer noch beschäftigte: Tamara Kalinoff.
Sie spürte, dass sich etwas Raues, Trockenes in ihrem Mund befand. Solveigh würgte und versuchte, es auszuspucken, aber es gelang ihr nicht. Warum lag sie auf dem harten Boden? Und warum konnte sie Arme und Beine nicht bewegen? Ihre Arme lagen schmerzhaft verdreht hinter ihrem Rücken, und etwas schnitt in ihre Handgelenke ein. Ihr Kopf dröhnte, am Hinterkopf spürte sie einen pochenden Schmerz. Sie war gefesselt! War das ein Knebel in ihrem Mund? Solveigh zwang sich, die Augen zu öffnen, und sah schimmernden Granitfußboden, der sich fast endlos vor ihr auszudehnen schien. Sie war in Katjas Haus und lag, so unglaublich es auch schien, gefesselt und
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