Ostseefluch
fuhren hintereinanderher an der Kieskuhle vorbei zu einer Wiese und stellten sich in einer Doppelreihe auf wie die Kavallerie zu einer Parade.
»Übt ihr das?«, fragte Pia, während er den Dieselmotor noch ein paar Sekunden nachlaufen ließ. »Ich hatte als Kind mal Reitunterricht. Da musste man sich auch immer so aufstellen. Das war mir irgendwie zu militärisch.«
Er drehte mit der linken Hand den Zündschlüssel, und der Motor erstarb. »Gibt es auch Dinge, die du nicht hinterfragst?«
»Ja.« Sie lächelte und sprang aus dem Wagen.
Er kam um die Motorhaube herum auf sie zu. »Und zwar?«
»Das musst du selbst herausfinden.«
»Ist wohl auch besser so«, sagte er und zog sie mit sich zu einer Holzhütte am Ende der Wiese.
»Auf der Familiengrabstelle der Hillmers sind doch noch drei Plätze für Urnen frei.« Die Dame vom Friedhofsbüro sah mit ausdrucksloser Miene von Rudolf Ingwers zu seiner Frau und wieder zurück.
Judith Ingwers, geborene Hillmer, starrte an ihr vorbei auf ein Grab unter einer hohen Kiefer. Der Grabstein war ein gigantischer Findling.
»Judith, hast du gehört?« Rudolf tippte sie leicht am Arm an, und sie fuhr zusammen.
»Auf keinen Fall! Nicht das Hillmer’sche Familiengrab, das ist nichts für sie.«
Ist nichts für sie, ist nichts für sie! Rudolf rang um Selbstbeherrschung. Natürlich war das alles überhaupt nichts für Milena! Seine Tochter hier zu vergraben, das war der Horror schlechthin. Sie sollte leben . Sie war noch so jung gewesen, hatte alles noch vor sich gehabt. »Wir müssen zu irgendeinem Entschluss kommen, Liebes«, sagte er so sanft, dass er sich über sich selbst wunderte. Dass sich die Mitarbeiterin des Friedhofsbüros heute Zeit für sie nahm, war schon äußerst entgegenkommend, da sollten sie sie nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Es war wohl leichter, vernünftig zu sein, wenn jemand neben einem so abdrehte wie Judith. Sie tat ihm damit geradezu einen Gefallen. Mal abgesehen davon, dass die ganze Vorstellung mehr als peinlich war. Aber was die Frau vom Friedhofsbüro über Judith dachte, konnte ihm egal sein. Das hier war Krisenmanagement auf höchstem Niveau. Wenn er das schaffte, konnte er alles schaffen.
»Sie wird nicht neben meinem Vater begraben.« Judith hob den Kopf und blinzelte. Ihre Stimme war ungewohnt fest. »Niemals!«
»Sie können natürlich auch eine neue Grabstelle wählen. Aber die wird dann auf dem anderen Teil des Friedhofs liegen. Hier vorn ist schon alles besetzt.«
»Gestorben wird immer«, fuhr Rudolf Ingwers der alte Spruch durch den Kopf. Eine krisensichere Angelegenheit. Ich sollte das Geschäft mit der Grabpflege noch weiter ausbauen. Laut sagte er: »Dann zeigen Sie uns doch bitte mal etwas, das infrage kommen würde.«
Er hatte vermutet, dass Judith auf der Grabstelle ihrer Eltern bestehen würde. Nicht aus lauter Liebe, allenfalls aus Pietät. Ihre Mutter hatte sie kaum gekannt. Sie war gestorben, als Judith noch sehr klein gewesen war, und ihr Vater ... Sie sprach fast nie über ihn, und wenn, dann ohne jedes Gefühl. Wenn im Dorf die Rede auf den alten Hillmer kam, klang immer eine seltsame Mischung aus Respekt und Verachtung mit. Respekt für seine einsamen Leistungen auf dem Hof, Verachtung für die Art und Weise, wie lieblos er seine Tochter behandelt und mit jedermann in seiner Umgebung im Dauerclinch gelegen hatte. Rudolf selbst hatte ihn nicht mehr kennengelernt, und da Judith die Alleinerbin des väterlichen Hofes gewesen war und der Verkauf die Basis für alle weiteren Unternehmungen ihrerseits dargestellt hatte, konnte er keine negativen Gefühle für diesen Hillmer empfinden. Letzten Endes war es ihm egal, wo Milena beerdigt wurde. Sein Mädchen war tot, für immer tot.
Die Frau vom Friedhofsbüro ging ihnen voran. Jeder ihrer Schritte wirbelte Staub auf den geharkten Wegen auf, der sich auf ihre praktischen braunen Schuhe legte. Sie hatte einen Plan bei sich, den sie des Öfteren zurate zog. Schließlich blieb sie stehen. »Hier.«
Der Platz war abgelegen, fast in der hintersten Ecke des Friedhofes. Noch seltsam kahl und sehr sonnig. Rudolf sah sich um. Das Neubaugebiet des Friedhofs ... Nicht so vorbelastet, wie ihm schien, die Erde noch frisch und unverbraucht. »Warum nicht?«, sagte er erleichtert. »Was sagst du dazu, Judith?«
Sie schüttelte vehement den Kopf. »Das geht auch nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »So weit ab von allem.«
»Was stellst du dir denn vor?« Die Zunge
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