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Ostseefluch

Titel: Ostseefluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Almstädt
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dachte sie mit plötzlicher Klarheit. Die Erde war nicht nur sprichwörtlich, sondern tatsächlich blutgetränkt.
    »Sie wundern sich bestimmt, was ich hier will«, sagte Judith Ingwers mit monotoner Stimme. »Aber ich habe keinen Ort für meine Trauer. Selbst die Kirche ... Es fühlt sich nicht richtig an. Milena wollte nie in die Kirche gehen. Und der Friedhof ...« Sie schauderte. »Ist sie gern hier gewesen? Es fühlt sich so an, als wäre Milena gern in diesem Garten gewesen.«
    »Ja, ist sie«, sagte Irma. »Sie hat die Beete hier eigenhändig angelegt.« Geradezu der Wildnis abgerungen. Sie hatte sich immer gewundert, wenn Milena zu Hacke und Spaten gegriffen hatte, um im Garten zu arbeiten. »Ganz der Vater«, hatte Arne das einmal kommentiert. »Das Gärtnern steckt ihr wohl doch im Blut.«
    »Wer ist das?«, fragte Judith Ingwers und schaute an ihr vorbei in Richtung Haus.
    Irma sah sich um. Zoe kam auf sie zu. Zögernd, offenbar wusste sie nicht so recht, was die seltsame Zusammenkunft im Garten zu bedeuten hatte. »Zoe, du solltest doch drinnen bleiben!«
    Judith Ingwers erhob sich erstaunlich mühelos. »Du bist aber ein hübsches Mädchen!«, sagte sie und hielt der Kleinen einladend die Hand hin. »Und so tolle Zöpfe hast du!«
    Zoe fasste sich mit einer Hand an das geflochtene rote Haar. Die andere hielt sie hinter ihrem Rücken verborgen.
    Sie hat ihrer Tochter früher bestimmt auch Zöpfe geflochten, dachte Irma mit einem Blick auf Judith Ingwers. Milenas Naturfarbe war ein mattes Rotblond gewesen. Bestimmt hatte Frau Ingwers auf anständigen Frisuren bestanden.
    »Was hast du da in der Hand hinter deinem Rücken, Zoe?«, fragte Irma, um irgendetwas zu sagen. »Die neue Knete wollten wir doch nicht mit raus in den Garten nehmen.«
    Das Mädchen schüttelte kaum merklich den Kopf und wich einen Schritt zurück. Es stand jetzt an der Stelle, an der Milenas Füße gelegen hatten. Irma fröstelte trotz der Hitze. Genau das hatte sie vermeiden wollen. Dass Zoe im Gemüsegarten herumlief, genau da, wo ...
    »Zeig doch mal, was du da Schönes hast!«, schmeichelte Milenas Mutter dem Mädchen. Zoes Anblick schien sie von ihrer Trauer abzulenken. Sie war vollkommen fixiert auf das Kind.
    »Darf nicht ...«, wisperte Zoe. Sonst war sie nicht so schüchtern. Was war nur los mit ihr?
    »Wer sagt das denn?« Irma trat einen Schritt auf ihr Kind zu.
    Schulterzucken. Verstocktes Schweigen.
    Nun ging es um ihre Ehre. Gerade vor Milenas Mutter, die in ihren Augen geradezu grenzenlos versagt haben musste, wollte Irma nicht unfähig dastehen, ausgebootet und ignoriert von einer Fünfjährigen. Irma ging vor ihrer Tochter in die Hocke und sah ihr direkt in die Augen. »Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander, Zoe. Du kannst mir alles sagen und alles zeigen. Ich möchte gern sehen, was du da hast.« Sie streckte der Kleinen die Hand entgegen, die Handfläche nach oben.
    Zoe zögerte, aber nicht sehr lange. Im Zeitlupentempo führte sie ihre zur Faust zusammengepressten Finger nach vorn. Wenn sie eine Figur aus Knete mit nach draußen genommen hatte, war die jetzt nur noch ein unförmiger Klumpen. Dann würde es Tränen geben.
    Irma sah, wie Judith Ingwers’ Schatten über Zoe fiel, als sie sich langsam vorbeugte, um ebenfalls herauszufinden, was das Kind vor ihnen versteckte.
    Die kleine Faust öffnete sich.
    Zu Irmas Verwunderung lag da ein kleines Bündel, das sie noch nie zuvor gesehen hatte: ein weißes, glänzendes Gewebe, das mehrfach von einem dünnen schwarzen Faden umwickelt war. Irma nahm das Ding mit spitzen Fingern hoch, drehte es ratlos hin und her. Das Innere war fest und schwer. Irgendetwas war in den Stoff eingewickelt. »Zoe! Woher zum Teufel hast du das?«
    Milenas Mutter hinter ihr gab einen gurgelnden Laut von sich. Irma drehte sich zu ihr um. Die Frau guckte entsetzt und bekreuzigte sich. Eine Geste, die man sonst nur noch in antiquierten Fernsehfilmen sieht, dachte Irma. Die Szene entbehrte nicht einer gewissen Komik.
    »Was zum Teufel ist das? Wissen Sie das etwa?«
    »Sie sollten Satan nicht so anrufen«, flüsterte Judith Ingwers. »Und auf gar keinen Fall hier.« Sie sah sich um.
    Okay, von dieser Frau war keine Hilfe zu erwarten. »Ist das vielleicht ein Geschenk für mich?«, fragte Irma betont ruhig. »Ich schau da mal rein, Zoe, ja?« Die Kleine schüttelte stumm den Kopf, doch Irma hatte den geknoteten Faden schon mit einem Knacken zerrissen und wickelte ihn ab. Er verhedderte sich

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