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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Menschheitsexperiment. Höhnen mochte Julia trotzdem nicht darüber, weil ihr der sozialistische Aufbruch als Reaktion auf den Faschismus näher war als das westdeutsche Herumwursteln nach dem Krieg. Die
Bundesrepublik war eine einzige Improvisation gewesen, flüchtig und hingehuscht, mit einem harmlosen Örtchen am Rhein als vorläufiger Hauptstadt, als wäre nichts gewesen. »Aufschließen« lautete die Parole im Westen, »Sich Ranhalten« und »Weitermachen«, schließlich ist jeder seines Glückes Schmied. Und weil das so war, hatten alle etwas zu tun und keiner mehr etwas zu sagen. Eine Gesellschaft stummer, eifriger Schmiede war entstanden, so kam es Julia vor, deren geschäftiges Hämmern jede noch so schüchtern gestellte Frage nach dem Woher und Wozu übertönte.
    Jeanette fand solche Gedanken sauertöpfisch und moralinsauer, sie kam bestens zurecht in der Improvisationsgesellschaft, und sie sah auch nicht ein, wie man mehr wollen konnte, als zurechtzukommen. Julia hingegen verstand die Verunsicherung, die die Menschen im Osten ergriffen hatte. Die Zukunft war ihnen abhanden gekommen, es gab kein Ziel mehr. Sollte dann auch der Aufbruch, die radikale Abkehr vom Faschismus, nichts wert gewesen sein? Die Alten fragten sich, ob sie umsonst gelebt hätten. Die mittlere Generation erfuhr, was sie versäumt hatte. Und die Jungen griffen rabiat nach allem, was man ihnen so lange vorenthalten hatte. Das - das dort mußte die Zukunft sein!

    »Darf’s doch etwas sein? Vielleicht möchten Sie ja auch etwas essen?«
    Die schüchterne Kellnerin riß Julia aus ihren Gedanken. Jetzt erst erkannte sie die blasse Iris. Sie trug einen braunen Latzrock, und irgendwie hatte sie es geschafft, ihre himbeerfarbene Strickjacke unter dessen Träger zu zwängen. Bläulichrot waren ihre Hände, als sie mit einem Bierdeckel ein paar Krümel vom Tisch fegte, Hände, die wirkten, als wären sie immerzu feucht.
    »Von der Abendkarte können Sie ab sofort bestellen. Die Küche ist jetzt geöffnet.«

    Ihre leise Stimme stand in groteskem Gegensatz zur der aufgesetzten Munterkeit ihrer Rede. Wie oft hatte sie diese einfachen Sätze wohl geübt? Wie immer wirkte solche Schüchternheit auf Julia ansteckend, Jeanette stieß sie unterm Tisch an. Johannsen merkte zum Glück nichts von solchen Verlegenheiten, er bestellte brummig »die Karte« -
    »Wenn Sie mir nicht so sagen können, was es heute gibt.«
    Stille breitete sich aus. Sie lasen. Und dann mußten alle lachen. Marianne Brant, die Unverwüstliche, hatte sich für den Winterspeiseplan ihres seltsamen Etablissements etwas Ausgefallenes ausgedacht, um Gäste anzulocken: historische Inselspeisen! Daß auf der Karte die Zubereitung verraten wurde, machte die Sache noch kurioser: Da gab es »Aal, sauer gekocht« und »Graue Klöße, nach Mutter Rieber«. Die inseltypische Aalsuppe wurde mit roten Beeren garniert, und zur Stärkung bot man eine »Sturmbowle« an, die hauptsächlich aus Rum-Verschnitt und jeder Menge Rotwein zu bestehen schien.
    »Na, großartig!« meinte Jeanette. »Am besten, wir ordern gleich einmal die ganze Karte runter. So ein Stadtkind wie ich braucht vermutlich eine kleine Inseleinführung.«
    Mit großem Hallo bestellten sie, auch noch Waffeln mit viel Schlagsahne zum Nachtisch, obwohl Julia und Renate schwach protestierten.
    »Unsinn!«
    Und so überhörten sie glatt, daß der alte Weber eingetreten war. Er war naß bis auf die Haut, sein grünes Arbeitszeug troff, und seine Gummistiefel hinterließen bei jedem Schritt Spuren auf dem ausgetrockneten Holzfußboden. Seine Mütze hielt er in den Händen, als er die schüchterne Kellnerin nach der Chefin fragte. Marianne Brant erschien im Türrahmen - und eine Erscheinung war sie wirklich! Als wollte sie allen Unbilden des Wetters trotzen, so hatte sich die Frau in einen Überwurf aus weißer Wolle gehüllt. Weiß
war auch der lange Rock, der darunter zum Vorschein kam, und geradezu aberwitzig zierlich erschienen die bestickten türkischen Pantöffelchen, die sie dazu trug. Die Fersen standen ein Stück über, in ihrer Größe gab es diese Art Schuhwerk ganz sicher nicht. Jeanette staunte. Auf so eine Gestalt war sie nicht gefaßt gewesen! Marianne eilte, flüchtig zum Tisch der Freunde herübergrüßend, auf den Bauern zu. Die beiden verhandelten eine Weile, dann wandte sich Marianne ab und schritt hoheitsvoll zurück zur Küche, während Bauer Weber verlegen auf die Gruppe zutrat:
    »Wenn ihr so gut wärt, mir mal

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