Ostwind (German Edition)
Fall das«, sagte Tinka eifrig und reichte Mika einen Helm. Er sah mehr nach einem Skaterhelm als einem Reithelm aus. »Den kannst du haben. Archibald versucht immer reinzubeißen –«
In diesem Moment betrat Michelle den Stall und blitzte Mika böse an. »Ich dachte, du hast Stallverbot?«
»Ich wollte nur … ich soll …«, stammelte Mika verlegen.
Zum Glück sprang ihr Tinka bei: »… Sam die Sachen bringen. Fur die neue Reitschulerin«, beendete sie Mikas Satz.
»Ge-nau. Die doppelt-gemoppelte Wassertranse. Danke und schonen Tag«, sagte Mika und drängte sich rasch an Michelle vorbei, die ihr misstrauisch hinterherblickte.
Um Michelle abzulenken, reichte Tinka ihr schnell die Stiefel. »Schau mal. Wie neu, oder?«
Michelle nahm ihre Stiefel und betrachtete sie kritisch.
Währenddessen lief Mika zurück in ihr Zimmer und zog sich rasch um. Dann huschte sie unbemerkt zu Herrn Kaans Laube. Aber sie war zu früh. Also setzte sie sich auf die Bank und wartete. Nervös trommelte sie mit den Fußen auf den Boden. Endlich offnete sich die Tur und Herr Kaan trat aus seiner Behausung. Mika sprang erlost auf. »Ich bin soweit!«, rief sie.
Herr Kaan musterte Mika mit etwas Erstaunen. An ihrem Körper flatterte eine viel zu große Reithose und auf dem Kopf trug sie den zu kleinen Reithelm. »Die Hose ist riesig. Aber ich hab jede Menge Zugel«, entschuldigte sich Mika. Sie reichte Herrn Kaan die Trensen.
Aber Herr Kaan legte sie beiseite. »Das brauchen wir nicht«, sagte er.
Mika sah ihn fragend an.
Herr Kaan hob drei Finger hoch. »Bevor ein Mensch auf ein Pferd steigt, muss er drei Dinge konnen«, erklärte er ihr und führte Mika zum See. Dort musste sie sich die Hosen hochkrempeln und auf ein glitschiges Floß stellen.
»Erstens: Balance«, sagte Herr Kaan.
Er forderte Mika auf, sobald sie sich sicher fühlte, ein Bein zu heben. Er selbst setzte sich gemütlich ins Gras, um zu schnitzen.
Diese Übung erschien Mika einfach. Schließlich war sie Kickboardfahrerin. Da war ein gutes Gleichgewichtsgefühl Voraussetzung. Mika konzentrierte sich. Dann hob sie vorsichtig ein Bein. Doch schon nach kurzer Zeit begann sie zu wackeln und plumpste ins Wasser.
»Mist!«, ärgerte sie sich.
Aber Herr Kaan sagte nur ruhig und ohne aufzublicken: »Noch mal.«
Für die nächste Übung holte Herr Kaan seinen alten Kassettenrekorder aus seiner Laube. Mika verzog das Gesicht. Aber Herr Kaan ließ sich nicht beirren. Er schwang seine Arme und vollfuhrte dazu seltsame, fur einen alten Mann aber erstaunlich kraftvolle Tanzschritte.
»Zweitens: Rhythmus«, sagte Herr Kaan. Dann packte er Mikas Hande und zog sie hoch. »Jetzt du«, sagte er.
Mika wusste kaum, wie ihr geschah. Etwas verkrampft tanzte sie mit Herrn Kaan völlig neben dem Takt. »Eins, zwei … ah … zwei …«
Eigentlich dachte Mika, es könnte nicht noch seltsamer kommen. Aber die nächste Übung bestand darin, dass Herr Kaan ihr in schneller Folge Äpfel zuwarf, die sie fangen sollte.
»Drittens: Koordination«, sagte Herr Kaan.
Mika gab sich redlich Mühe. Aber die Äpfel brachten sie sichtbar aus dem Konzept.
»Und viertens …«, sagte Herr Kaan.
Mika verdrehte die Augen. »Wieso vier? Drei haben sie gesagt!«, rief sie ungeduldig.
»… Ausdauer«, vollendete Herr Kaan seinen Satz und warf ihr eine neue Ladung Äpfel zu.
»Wenn du das alles kannst, machen wir weiter«, sagte Herr Kaan und lächelte ein seltenes Lächeln.
Mika schluckte, aber sie ließ sich nicht entmutigen. In den nächsten Tagen nutzte sie jede Minute, um zu trainieren. Gelegenheiten gab es viele.
Das Vordach, über das sie sich jeden Tag aus dem Zimmer schlich, war schon bald ihre einfachste Übung. Sie meisterte die rutschige Schräge mit schlafwandlerischer Sicherheit.
Dann rannte sie zu Herrn Kaan, der sie zu einem ausgelassenen Tänzchen aufforderte. Seine Koppel erwies sich dabei als hervorragendes Übungsterrain. Einmal probierte Mika, mit einer Schüssel Mohrrüben auf dem Kopf auf der Mauer zu balancieren. Die Schüssel schwankte bedrohlich. Als dann auch noch Michelle an ihr vorbeiritt, prasselten die Mohrrüben lautstark zu Boden. Michelle warf Mika einen mitleidigen Blick zu. Aber Mika biss die Zähne zusammen und probierte es gleich noch einmal.
Selbst beim Mittagessen konnte Mika nicht aufhören, zu üben. Mit blitzschnellen Bewegungen stocherte sie uber ihren Teller, dann hielt sie triumphierend die Gabel hoch. Auf jeder Zinke hatte sie je eine Erbse
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