Ostwind (German Edition)
aufgespießt. Ihr Siegerlacheln verschwand jedoch schnell, als sie in das befremdete Gesicht ihrer Großmutter blickte. Kommentarlos aß Maria Kaltenbach weiter, wahrend Mika einen weiteren Versuch startete – diesmal mit der linken Hand.
Wenn Sam Mika in diesen Tagen üben sah, musste er jedes Mal heimlich grinsen. Er war der Einzige auf dem Hof, der wusste, warum sich Mika so sonderbar benahm.
Am schwierigsten war die »Wippe«, ein Baumstamm, über dessen runde Seite Herr Kaan ein schmales Brett legte, damit Mika darauf balancierte. Aber das spornte Mika erst richtig an. Sie übte Stunde um Stunde. Als sie endlich sicher auf dem Brett stand, warf ihr Herr Kaan unvermittelt ein paar Äpfel zu. Ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten, fing Mika den ersten Apfel mit der rechten, den zweiten mit der linken Hand. Sie grinste.
Herr Kaan nickte zufrieden. »Jetzt hast du es!«
Mika hatte den Grundkurs bestanden. Nun ging es endlich auf die Koppel.
Während Ostwind friedlich graste, führte Herr Kaan Mika in die entgegengesetzte Richtung fort, um ihr seine Prinzipien im Umgang mit einem Pferd zu erklären.
»Das Wichtigste zwischen Reiter und Pferd ist die Beziehung. Es muss ein Gleichgewicht herrschen zwischen Vertrauen und Respekt. Du musst ihn fuhren. Wenn du seinen Respekt nicht am Boden hast, wirst du ihn auf seinem Rücken auch nicht bekommen«, erklärte Herr Kaan.
Mika hörte ihm aufmerksam zu. Wahrend sie gingen, sahen sie nicht, dass Ostwind sich in Bewegung gesetzt hatte und ihnen neugierig folgte.
»Er muss dir folgen. Aber nie aus Angst. Er muss dir folgen wollen-«, sagte Herr Kaan gerade noch, als hinter ihnen ein Schnauben zu hören war.
Verblufft hielt Herr Kaan inne und drehte sich um. Ostwind stand direkt neben Mika und stupste sie sanft an die Schulter. Mika streichelte ihn abwesend, ihre Konzentration war noch immer voll bei Herrn Kaan.
»Ja? Wir mussen –?«, fragte Mika wissbegierig.
Doch Herr Kaan hatte vergessen, was er sagen wollte.
In den nächsten Tagen trainierten sie von früh bis in die Abendstunden. Aber noch durfte Mika nicht auf Ostwinds Rücken. Erst sollte ihr Vertrauen ineinander weiterwachsen.
Und so gingen Mika und Ostwind zunächst nur nebeneinander her. Mika wechselte dabei unverwandt Richtung und Geschwindigkeit, Ostwind tat es ihr nach. So kamen sie sich auf Augenhöhe näher und näher. Aber es war schon nicht mehr reines Spiel. Mika war die ganze Zeit konzentriert. Sie wirkte planvoll, sie beobachtete und lernte.
»Ihr musst eure Bewegungen aneinander angleichen. Pferde kommunizieren über Körpersprache und Energie. Du musst dein Pferd fühlen, um es begreifen zu können …«, rief Herr Kaan, während er dabei zusah, wie sich auf der Koppel zwischen Mika und Ostwind mehr und mehr ein harmonisches Ballett entwickelte.
»Pferde verstehen Bilder. Schick ihm ein Bild von dem, was du möchtest, dass es tut. Wenn er dir richtig vertraut, kannst du einen Gedanken denken und er folgt dir. Wenn er es nicht tut, macht nicht er den Fehler, sondern du. Es liegt in deiner Verantwortung, ein guter Leader für dein Pferd zu werden«, rief Herr Kaan.
Aber Mika und Ostwind hatten bereits verstanden. Im warmen Licht der Abendsonne lief Mika uber die Wiese, Ostwind dicht neben ihr. Ihre Bewegungen waren absolut synchron.
»Ihr seid eine Herde. Eine Zweierherde. Und du bist das Leittier«, rief Herr Kaan von der anderen Seite des Gatters. Er sah zufrieden aus.
Für die letzte Übung führte Herr Kaan Mika schließlich zu einem Waldsee. Das, was nun geschehen sollte, war für Ostwind und Mika ein wichtiger Meilenstein. Herr Kaan hatte Mika vorher genau instruiert. Er selbst blieb am Ufer stehen, während Mika Ostwind in den See führte. Als sich das erste Wasser in Mikas Jeans saugte, blieb sie verunsichert stehen.
»Nur weiter. Wie wir es besprochen haben«, sagte Herr Kaan aufmunternd. »Jetzt werden wir sehen, ob er dich akzeptiert.«
Mika ging langsam weiter.
»Denk daran: Deine Angst ist seine Angst«, rief Herr Kaan.
Mika nickte. Entschlossen lief sie weiter in den See, bis sie nicht mehr stehen konnte. Ostwinds Rucken war schon fast mit Wasser bedeckt. Mika schaute zu Herrn Kaan ans Ufer, der ihr mit einem entschlossenen Nicken signalisierte: Nur zu!
Mit einem Schwimmstoß landete Mika auf Ostwinds Rucken. Langsam richtete sie sich auf, griff in seine Mahne, um sich festzuhalten. Vorsichtig wendete das große Pferd und gemeinsam entstiegen die beiden dem glitzernden
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