Ostwind (German Edition)
das war deutlich.
Aufmerksam sah Friedrich Fink Michelle an. »Ich bin siebenundsechzig«, erwiderte er trocken.
Michelles Lacheln gefror.
In dem Moment krachte etwas Metallenes laut auf den Steinboden. Alle sahen erschrocken auf. Die Ladeklappe des schwarzen Pferdetransporters war heruntergelassen worden. Die Fahrertur offnete sich und grobe schwarze Arbeitsstiefel tauchten darunter auf. Der Ungar. Selbst Friedrich Fink wandte sich schaudernd ab, als der Mann ohne Wort und ohne Gruß hinüber zum Stall ging.
Die Stallgasse war menschenleer. Die Pferde in ihren Boxen wieherten beunruhigt, als der Schatten des Ungarn sie passierte. Vor Ostwinds Box machte er Halt. Er fasste das Betäubungsgewehr fester und öffnete die Tür zur Box … doch sie war leer. Bis auf ein Paar edle braune Reitstiefel, die einsam im Stroh lagen.
17. Kapitel
An der Tur des Gutshauses klingelte es Sturm. Eine bleiche Maria Kaltenbach offnete die Tur – und schaute in das nicht minder bleiche Gesicht ihrer Tochter Elisabeth, Mikas Mutter. Die beiden hatten sich seit Jahren nicht gesehen. Aber an eine Umarmung dachte keine von beiden.
»Wo ist meine Tochter?«, presste Mikas Mutter hervor. Ihre Stimme zitterte vor Wut.
»Die Polizei ist benachrichtigt. Wir suchen sie. Weit kann sie nicht sein. Sie hat schließlich ein Pferd dabei«, versuchte Maria Kaltenbach ihre Tochter zu beruhigen. Aber das war ihr gründlich misslungen.
»Ein Pferd! Naturlich! Was hab ich mir nur dabei gedacht, sie zu dir zu bringen?!«, rief Mikas Mutter aufgebracht und sah ihre Mutter herausfordernd an. Doch Mikas Großmutter wirkte ungewöhnlich alt und müde. Sie wollte keine Grundsatzdiskussionen, keinen Kampf. »Komm doch erst mal rein. Mika wird sicher bald auftauchen. Sie kann ja schlecht auf die Autobahn«, sagte sie und öffnete weit die Tür.
Mika hielt ihr Handy fest ans Ohr gepresst. Sie ritt auf Ostwind auf dem Standstreifen einer Schnellstraße. Autos brausten an ihr vorbei. Sie passierte eine Raststätte. Eine Oma, die gerade ihren Proviant auf ein Tischchen sortierte, staunte sie erschrocken an. Doch Mika versuchte, sie und den Verkehr zu ignorieren.
»Fanny, horst du mich?«, rief sie gegen den Lärm in ihr Handy.
Fanny stand gerade in bunten Shorts am Meer und patschte durchs Wasser. »Klar hor ich dich …«, reagierte die Freundin beleidigt. »Und zwar das erste Mal seit drei Wochen, du treulose Orange.«
»Tomate!«, unterbrach Mika sie ungeduldig. »Ich brauche jetzt deine Hilfe«, schrie sie ins Telefon. »Sag mir einfach nur, wie ich zu dir komme. Ich erklar’s dir spater.«
Wie bitte? Mika war auf dem Weg zur Nordsee? Diese Ankündigung schien Fanny sofort zu versöhnen. »Echt, du kommst noch? Hast du deine Mum bequatschen konnen? Cool!«
»Fanny!«, rief Mika entnervt.
»Okay, okay. Wo seid ihr denn jetzt?«, besann sich Fanny endlich auf Mikas Bitte.
Mika sah sich um und entdeckte ein großes Schild. »Auf der Autobahn. Irgendwo vor Bremen«, gab sie an Fanny durch.
Fanny tippte bereits in ihrem Handy herum. »Dann musst ihr … ab da Richtung Bremerhaven fahren und dann nach Schillig. Direkt am Meer. Ich schick dir ’nen Link.«
»Danke«, schrie Mika ins Handy, denn ein LKW brauste dicht an ihr vorbei.
»Super, dann bis nachher. Hallo? Hallo? Mika?«, rief Fanny. Aber da hatte Mika schon aufgelegt.
Auf Gut Kaltenbach warteten zwei Frauen schweigend auf eine Nachricht. Maria Kaltenbach saß in einem Sessel neben dem Kamin, vor ihr das Telefon, das nicht klingeln wollte. Ihre Tochter Elisabeth stand am Fenster und schaute unverwandt hinaus. Regen prasselte auf den Hof. Die unerträgliche Spannung zwischen den Frauen war beinahe greifbar.
Irgendwann hielt Mikas Mutter das Schweigen nicht länger aus.
»Viel hat sich ja nicht verandert«, bemerkte sie möglichst unverbindlich.
»Mika hat es hier gefallen«, sagte Maria Kaltenbach.
»Ja, sicher. Deshalb ist sie wohl auch abgehauen«, erwiderte Elisabeth sarkastisch.
Maria Kaltenbach zuckte gekränkt zusammen. Aber sie brannte darauf, mit ihrer Tochter über Mika zu sprechen.
»Sie ist ein Naturtalent. Es konnte eine echte Ausnahmereiterin aus ihr …«, begann sie in dringlichem Ton. Aber Mikas Mutter wollte davon nichts hören. Sie drehte sich um und sah ihre Mutter mit kalter Wut an: »Du hast dich kein bisschen verandert. Du siehst Menschen immer noch in nur zwei Kategorien: Reiter – und alle anderen. Die dich nicht interessieren.« Mikas Mutter machte eine kurze
Weitere Kostenlose Bücher