Ostwind (German Edition)
Pause und fügte dann bitter hinzu: »Das war schon immer so. Aber ich lasse nicht zu, dass du meine Tochter verbiegst.«
Maria Kaltenbach sah ihre Tochter erstaunt an. »Verbiegen? Deine Tochter wurde all diese Walzer uber Quantenphysik sicher gerne eintauschen gegen ein Paar Reitstiefel«, rief sie. Doch dann wandte sie ihren Blick ab und sah nachdenklich ins Feuer. »Mag sein, dass ich damals Fehler gemacht habe, aber Mika hat lieber im Stall als in ihrem Bett ubernachtet«, fügte sie schließlich hinzu.
Mikas Mutter stiegen mit einem Mal die Tränen in die Augen.
»Aber doch nur weil sie wollte, dass du sie siehst!!«, rief sie unerwartet heftig.
Für einen Moment war es sehr still im Kaminzimmer. Langsam stand Maria Kaltenbach auf und hinkte auf ihre Tochter zu. »Elli«, sagte sie hilflos. Doch Mikas Mutter schuttelte nur abwehrend den Kopf.
»Wir sollten etwas essen. Komm«, sagte Maria Kaltenbach schließlich und verließ schleppend das Zimmer. Mikas Mutter blieb alleine zurück.
Als Maria Kaltenbach spät ins Zimmer zurückkehrte, lag ihre Tochter in ihrem Lehnstuhl neben dem Telefon in einem unruhigen Schlaf. Maria Kaltenbach legte einen Scheit auf die glimmende Glut im Kamin. Dann nahm sie eine Decke von einem Stuhl und deckte ihre Tochter behutsam zu.
Es regnete wie aus Kübeln. Mika hatte die Schnellstraße verlassen und führte Ostwind am Zügel über eine matschige Schotterstraße. Ihr wurde immer mehr klar, dass sie ihr Ziel nicht so bald erreichen würden. Auch wollte sie Ostwinds Gesundheit nicht länger aufs Spiel setzen. Der Hengst brauchte Ruhe. Mika führte Ostwind zu einer Tankstelle. Dort kaufte sie von ihrem letzten Geld alle Mineralwasserflaschen, die sie sich leisten konnte. Dann schüttete sie das Wasser in eine Schüssel und gab Ostwind zu trinken.
Nachdem Ostwind seinen Durst gelöscht hatte, suchte Mika für ihn einen ruhigen Platz auf einer Wiese. Ostwind war am Ende seiner Kräfte. Erschöpft legte er sich auf den Boden. Mika kuschelte sich an seinen Bauch und schlief sofort ein.
Nach einem kurzen, traumlosen Schlaf öffnete sie verwirrt die Augen. Ostwind war bereits wach. Er erhob sich. Mika tat es ihm nach.
Ihre Reise ging weiter über endlos lange Straßen. Als Mika zwei Wanderern begegnete, die ihr mit unverhohlener Neugier nachsahen, lenkte sie Ostwind in einen Waldweg. Die Straße wollte sie künftig meiden. Sicherlich hatte ihre Großmutter längst die Polizei informiert. Sie mussten unbedingt zu Fanny! Erst dann konnten sie sich wirklich ausruhen!
Mikas Magen knurrte. Ihr Hintern tat weh. Aber irgendwann waren Hunger und Schmerz verschwunden. Mika fühlte sich wie in Trance. Sie merkte kaum, wie sich die Landschaft um sie herum immer mehr veränderte. Bald wurde die Gegend einsamer, und wogende Felder säumten ihren Weg, soweit das Auge reichte. Ein Blick auf ihr Handy verriet Mika, dass es nicht mehr weit sein konnte. Doch mit einem Mal verließ sie alle Kraft. Sie schloss die Augen und legte sich auf Ostwinds Hals. Sie ließ sich einfach tragen. Denn sie wusste, sie würden ankommen.
Mika erwachte erst, als Ostwind leise wieherte. Er hob den Kopf und schnupperte in die Luft. Mika richtete sich auf. Das weite Meer lag direkt vor ihnen.
»Ich glaube, wir sind da …«, rief Mika.
Alle Anstrengungen waren angesichts der sonnenglitzernden Wellen vergessen. Ostwind wieherte. Nun gab es nur noch eins: zum Strand! Langsam suchten sie sich ihren Weg durch die Dünen hinab zur Brandung. Dann tauchten sie ein in den salzigen Wind, in das zeitlose Rauschen des Meeres. Begleitet vom Kreischen der Möwen preschten sie los. Unter Ostwinds Hufen spritzte der Sand. In wildem Galopp ging es ihrem Ziel entgegen.
Kurz vor dem Feriencamp rief Mika Fanny an. Diese stand bereits am Strand, doch so sehr sie sich auch drehte und schaute, sie konnte Mika nicht entdecken.
»No. Ich seh dich immer noch nicht«, sagte sie ins Telefon. »Da ist nur so eine Tussi auf einem Gaul.«
»Tussi?« Mika klang empört. Aber sie lachte. Das Wasser der Brandung spritzte unter Ostwinds Hufen. Im Galopp kamen sie immer näher. Aber Fanny drehte sich erst zu ihr um, als Mika mit Ostwind direkt vor ihr zum Stehen kam. Fanny entfuhr ein erschrockenes Quieken, als sie Mika auf dem großen Pferd entdeckte.
Mika glitt von Ostwinds Rücken und umarmte Fanny, die sich langsam von ihrem Schock erholte.
»Ich hab mich schon gefragt, warum du so lange brauchst. Bist du den ganzen Weg hierher geritten? Und
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