Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
nicht rasch Abhilfe schaffen könnten.«
Christabel stand auf und stellte die Brille ab für den Fall, daß die plötzlich laut zu reden anfing und das Geheimnis verriet. »Mama, kann ich ein bißchen rausgehen? Nur ganz kurz?«
»Nein, Liebes, ich habe gerade das Essen auf den Tisch gestellt. Iß erst einen Happs, dann kannst du gehen. Ron, du ißt doch hoffentlich etwas mit?«
Captain Parkins rutschte auf seinem Sessel vor und stellte sein leeres Glas auf den Couchtisch. »Mit dem größten Vergnügen, Ma’am.«
Christabels Mutter lächelte. »Wenn du noch einmal Ma’am zu mir sagst, muß ich leider dein Essen vergiften.«
»Es wäre trotzdem noch dem vorzuziehen, was ich zuhause vorgesetzt bekomme.«
Ihre Mutter lachte und geleitete die Männer in die Küche. Christabel war beunruhigt. Mach schnell, hatte die Aufforderung gelautet. Aber wegzugehen, wenn das Essen auf dem Tisch stand, war verboten, und Christabel tat nie etwas, was verboten war. Na ja, fast nie.
Mit einer Selleriestange in der Hand stand sie auf. »Darf ich jetzt rausgehen?«
»Wenn es dein Vater erlaubt.«
Ihr Papi musterte sie von Kopf bis Fuß, als ob er mißtrauisch wäre. Einen Moment lang hatte sie Angst, aber dann merkte sie, daß er nur Spaß machte. »Und wo willst du mit dem Sellerie hin, mein Fräulein?«
»Den kau ich gern im Gehen.« Sie biß ein Stück ab, um es ihm vorzuführen. »Und dann laß ich es beim Gehen so krachen, daß es sich anhört, wie wenn ein Monster auf Häuser tritt – krach krach krach.«
Alle Erwachsenen lachten. »Kinder«, sagte Captain Parkins.
»Na gut. Aber bevor es dunkel wird, bist du wieder daheim.«
»Versprochen.« Sie huschte aus dem Eßzimmer und nahm ihren Mantel vom Haken, aber anstatt direkt zur Haustür zu laufen, ging sie leise den Flur hinunter ins Badezimmer und machte das Schränkchen unter dem Waschbecken auf. Als sie sich die Taschen vollgestopft hatte, schlich sie so leise, wie sie konnte, zur Tür zurück. »Ich geh jetzt«, rief sie.
»Paß auf dich auf, kleines Monster«, rief ihre Mutter zurück.
Rote und braune Blätter wirbelten über den Rasen vorm Haus. Christabel eilte zur Straßenecke. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß niemand hinter ihr herschaute, schlug sie die Richtung zu Herrn Sellars’ Haus ein.
Niemand rührte sich, als sie klopfte. Nach ein paar Minuten machte sie sich selbst die Tür auf und trat ein, obwohl es ein komisches Gefühl war, als ob sie ein Dieb wäre oder sowas. Die feuchte, heiße Luft schlug ihr von allen Seiten so dick entgegen, daß sie wie etwas Lebendiges war.
Herr Sellars saß in seinem Stuhl, aber sein Kopf hing weit im Nacken, und seine Augen waren zu. Einen Moment lang dachte sie, er sei ganz bestimmt tot, und wollte schon richtig Angst kriegen, aber dann ging ein Auge auf, ganz langsam wie bei einer Schildkröte, und er sah sie an. Auch seine Zunge kam heraus, und er leckte seine rauhen Lippen und versuchte etwas zu sagen, aber brachte keinen Ton heraus. Er hielt ihr seine Hand hin. Die Hand zitterte. Zuerst dachte sie, er wollte sie ihr zur Begrüßung geben, aber dann sah sie, daß er auf ihre prallen Taschen deutete.
»Ja, ich hab welche mitgebracht«, sagte sie. »Geht’s dir gut?«
Er bewegte abermals die Hand, diesmal fast ein wenig unwirsch. Sie holte die ganzen Stücke von Mutters Gesichtsseife aus dem Mantel und häufte sie in seinem Schoß auf. Er kratzte mit seinen Fingern an einem Stück herum, aber es fiel ihm schwer, das Papier abzukriegen.
»Laß mich das machen.« Sie nahm ihm das Stück Seife vom Schoß und packte es aus. Als es weiß und glänzend in ihrer Hand lag, deutete er auf einen Teller, der neben ihm auf dem Tisch stand. Auf dem Teller lagen ein sehr altes Stück Käse – es war ganz vertrocknet und rissig – und ein Messer.
»Möchtest du was essen?« fragte sie.
Herr Sellars schüttelte den Kopf und griff sich das Messer. Fast hätte er es fallengelassen, so sehr zitterten seine Hände, aber dann hielt er es Christabel hin. Er wollte, daß sie die Seife schnitt.
Sie sägte eine Weile an der glitschigen Seife herum. Sie hatte in der Schule Seifenfigurenschnitzen gehabt, aber es war nicht einfach. Diesmal konzentrierte sie sich ganz arg, und schließlich gelang es ihr, ein Stück abzuschneiden, das so breit war wie zwei ihrer Finger nebeneinander. Herr Sellars streckte eine Hand wie eine geschmolzene Vogelklaue danach aus und ließ es sich geben, dann stopfte er es sich in den
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