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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Stephen vor ihr, durch einen langen Tunnel in die Nacht absank, in eine Nacht, die vom Tod nicht zu unterscheiden war.
    Sie fühlte ihren physischen Körper nicht mehr, der zweifellos nutzlos neben !Xabbus im Gurtraum baumelte. Sie war nur noch Augen und Ohren, an den Rand des Wahnsinns getrieben von dem heulenden Lichtwirbelsturm, der Kali war.
    Ungehemmt und ohne Ventil schoß die Verzweiflung durch sie hin wie ein furchtbarer lautloser Stromstoß auf dem elektrischen Stuhl. Aber er reichte nicht aus – sie brauchte mehr. Sie dachte an ihr Herz und stellte sich vor, wie es pumpte. Jetzt, wo sie zuließ, daß die nackte Angst das Bild bestimmte, visualisierte sie sein immer schnelleres Hämmern, sein Ringen darum, eine Notsituation zu bewältigen, für die die Evolution nicht hatte vorsorgen können.
    Es ist hoffnungslos, sagte sie sich und malte sich aus, wie ihr Herz bebte und hetzte. Ich werde hier sterben oder für alle Zeit ins Nichts stürzen. Der dunkle Muskel war ein scheues, heimliches Ding wie eine aus der Schale gerissene Auster, die chancenlos um ihr Überleben kämpfte. Er pumpte und jagte und verstolperte sich, wenn asynchrone Faserrhythmen ihn aus dem Takt warfen.
    Heiße und kalte Blitze durchzuckten sie, Angstzustände von toxischer Stärke, Schauer hilfloser tierischer Panik.
    Rasend, ringend, versagend.
    Ich bin verloren, genau wie Stephen, genau wie !Xabbu . Bald werde ich im Krankenhaus liegen, eingeschlossen in einen mit Sauerstoff gefüllten Leichensack, tot, totes Fleisch.
    Bilder flimmerten vor ihr auf, sprangen aus dem kaleidoskopischen Treiben heraus, das vor ihrem inneren Auge wogte – Stephen, grau und bewußtlos, für sie unerreichbar, wie er irgendwo in einer leeren, gottverlassenen Gegend herumirrte.
    Ich sterbe.
    Ihre Mutter, schreiend vor Qual in ihren letzten Momenten, eingeschlossen im Obergeschoß des Kaufhauses mit den gierig nach oben kletternden Flammen und sich bewußt, daß sie ihre Kinder nie wiedersehen würde.
    Ich sterbe, sterbe.
    Der Zerstörer Tod, das große Nichts, die eiskalte Faust, die dich packt und zerquetscht, dich zu Staub zerdrückt, der in der leeren Finsternis zwischen den Sternen treibt.
    Ihr Herz stotterte, ächzte dem Kollaps entgegen wie ein zu heiß gelaufener Motor.
    Ich sterbe ich sterbe ich sterbe ich…
     
    Die Welt machte einen Ruck und wurde grau; Hell und Dunkel waren gleichmäßig verwischt. Renie spürte, wie ein stechender Schmerz ihren Arm hinunterfuhr, ein Feuerstrahl. Sie war in irgendeinem Dazwischen, sie war am Leben, nein, sie war im Begriff zu sterben, sie …
    Ich bin draußen, dachte sie, und der Gedanke klirrte in ihrem urplötzlich weiträumigen, hallenden Schädel. Die schrille Bedröhnung war verstummt. Ihre Gedanken gehörten wieder ihr, aber selbst durch den Schmerz zog noch eine riesengroße, zähklebende Müdigkeit an ihr. Ich muß einen Herzanfall haben.
    Aber ihr Vorgehen war bereits beschlossen gewesen, bevor sie angefangen hatte. Sie konnte es sich nicht leisten, darüber nachzudenken, was sie tun sollte, durfte dem Schmerz keine Beachtung schenken – noch nicht.
    »Zurück zum letzten Knoten.« So laut ihre Stimme gegen die neue Stille in ihrem Kopf war, war sie doch nur ein trockenes Wispern.
    Noch bevor das Grau sich fertig hergestellt hatte, war es auch schon fort. Die Höhle umgab sie wieder mit dem rot lodernden Licht. Ihr Standort hatte sich geändert; jetzt stand sie auf einer Seite von Kali, die sich über die zusammengekauerte Gestalt !Xabbus gebeugt hatte wie ein interessierter Geier. Die Arme der Todesgöttin waren regungslos, die unerträgliche Stimme stumm. Ihr verschleiertes Gesicht schwenkte zu der Stelle herum, an der Renie wieder aufgetaucht war.
    Renie sprang vor und ergriff den Sim des Buschmanns. Der nächste reißende Blitz schoß ihren Arm hoch; sie biß die Zähne zusammen und unterdrückte eine Aufwallung von Übelkeit. »Ende!« schrie sie und löste den Austritt für sie beide aus, brach jedoch augenblicklich ab, als !Xabbus Teil des Programms nicht reagierte. Wieder kam ihr der Magen hoch. Der kleine Mann war immer noch irgendwie gefangen, wurde immer noch festgehalten. Sie mußte einen anderen Weg finden, um ihn herauszuholen.
    Ein Schatten strich über sie hinweg wie ein negativer Suchscheinwerfer. Sie blickte auf und sah die rotumrandete Gestalt Kalis mit weit ausgebreiteten Armen über sich stehen.
    »O Scheiße.« Wie lebensecht mochte diese Simulation sein? überlegte Renie und packte

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