Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Bevölkerungsanteil; sie begriff jetzt, was das Wesen vor ihr darstellen sollte. Aber Leute von anderswoher verstanden vielleicht den Namen des Orakels nicht, vor allem Kinder. Schlupf und seine Freunde hatten wahrscheinlich noch nie von der hinduistischen Todesgöttin Kali gehört und sich deshalb ihren eigenen Reim auf den Namen gemacht.
Schlupf, Twill – das waren keine Erwachsene, erkannte sie plötzlich, es waren Kinder oder kinderartige Replikanten. Daher der merkwürdige Eindruck, den sie auf sie gemacht hatten. Hier an diesem gräßlichen Ort wurden Kinder dazu benutzt, andere Kinder zu fangen.
Dann hält dieses Monster mich ebenfalls für ein Kind! Und Strimbello auch! Sie hatten eine falsche Identität gewittert, aber sie hatten vermutet, Renie wäre ein Kind, das als Erwachsener getarnt den Club durchstreifte. Aber wenn das stimmte, dann hatten Schlupf und seine Kumpane sie derselben Prozedur ausgeliefert, die Stephen und Gott weiß wie viele andere gebrochen hatte.
!Xabbu lag immer noch hilflos glotzend auf den Knien. Auch er war gefangen – vielleicht war er schon gefangen gewesen, bevor sie ihn überhaupt gefunden hatte, und war mittlerweile genauso weit weg wie Stephen. Er konnte nicht aussteigen.
Aber Renie konnte es, oder wenigstens hatte sie es vor wenigen Minuten noch gekonnt.
Einen Moment lang hörte sie auf, gegen die unsichtbare Fesselung anzukämpfen. Aufgabe witternd dehnte sich die dunkle Gestalt Kalis aus, bis sie ihr ganzes Gesichtsfeld ausfüllte. Das verschleierte Gesicht neigte sich vor, der Umhang blähte sich wie der aufgespreizte Hut einer Kobra. Die Lichter blinkten. Ermahnungen, Befehle, Drohungen stürzten auf Renie ein und vereinigten sich zu einem tumultuarischen Geleier von einer Lautstärke, daß ihre Kopfhörer zu vibrieren schienen.
»Ende.«
Nichts geschah. Ihr Sim blieb als widerwilliger Verehrer zu Kalis Füßen festgebannt. Aber das war absurd – sie hatte das Codewort gesagt, ihr System war auf Sprachbefehle programmiert. Es gab keinen Grund, weshalb es nicht funktionieren sollte.
Sie starrte in einen wilden Strudel aus rotem Licht, krampfhaft bemüht, in dem ohrenbetäubenden unaufhörlichen Lärm die Konzentration zu bewahren, der Panik nicht zu erliegen und nachzudenken.
Jeder Sprachbefehl sollte eigentlich ihr System in der TH initiieren … es sei denn, diese Leute konnten irgendwie ihre Stimme genauso blockieren, wie sie ihren Sim festgebannt hatten. Aber wenn sie dazu imstande waren, wozu sie dann mit so viel Aufwand an diesen Ort lotsen, wenn Strimbello sie ebenso gut im Gelben Zimmer hätte immobilisieren können? Wozu eine derartige Schau veranstalten? Sie mußten sie hier haben wollen, isoliert, wehrlos ausgesetzt diesem optischen und akustischen Bombardement. Es mußte Hypnose sein, irgendein Verfahren mit extrem schnellem Lichttakt und besonderen Schalleffekten, die direkt auf das Nervensystem einwirkten, eine Technik, die ihre körperlichen Reaktionen von ihren höheren Denkprozessen abkoppelte.
Was bedeuten konnte, daß sie gar nichts gesagt, sondern nur gedacht hatte, sie hätte.
»Ende!« schrie sie. Noch immer geschah nichts. Es war schwer, sich zu konzentrieren, schwer, ihren wirklichen Körper unter dem blendenden, staccato pulsenden Licht und dem schmerzhaften Brummen von einer Million Wespen in den Ohren zu fühlen. Sie spürte, wie ihre Angreiferin auf den Panzer der Konzentration einschlug, das einzige, was sie noch vor einem Absturz ins Nichts bewahrte. Sie konnte ihn nicht mehr viel länger aufrechterhalten.
Totmannschalter. Das Wort flackerte auf, ein von dem Malstrom losgerissener Erinnerungsfetzen. Jedes System hat einen Totmannschalter. Eine Sicherung, die dich hinausbefördert, wenn du ernste Schwierigkeiten hast, einen Schlaganfall oder etwas in der Art. Die TH mußte auch einen haben. Es war so laut, so fürchterlich laut. Jeder Gedanke glischte weg wie ein aus dem Glas gefallener Goldfisch. Herzfrequenz? Ist der Schalter an die EKG-Kontrolle im Gurtzeug angeschlossen?
Sie mußte einfach davon ausgehen, es war die einzige Chance, die sie noch hatte. Sie mußte versuchen, ihren Puls über die zulässige Gefahrengrenze hinaus in die Höhe zu treiben.
Renie ließ der Angst, die sie mit aller Gewalt unterdrückt hatte, endlich freien Lauf. Das war nicht schwer. Selbst wenn ihre Vermutung stimmte, gab es nur eine hauchdünne Chance, daß dieser Plan funktionierte. Wahrscheinlicher war, daß er nicht klappte und sie, wie
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