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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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!Xabbu noch fester. Sie wappnete sich innerlich gegen den unvermeidlichen Schmerz, gab sich einen Ruck und rammte eine Schulter in die mittlere Partie des Orakels. Es gab keinen spürbaren Kontakt, aber das Wesen glitt ein Stück zurück bis mitten über die dampfende Grube. Eingetaucht in den roten Schein hing das Ungeheuer im Raum, die Füße auf nichts gesetzt.
    Eine der vielen Hände flog zu Kalis Gesicht hoch, riß den Schleier weg und enthüllte blaue Haut, einen aufgerissenen Rachen, eine weit heraushängende rote Zunge … und keine Augen.
    Damit sollte Renie gebannt werden, bis die visuellen Tricks wieder losgehen konnten. Vorher wäre das vielleicht geglückt, aber jetzt hatte sie einfach nicht mehr die Kraft zu erschrecken. »Ich hab dein verdammtes Spiel so satt«, knurrte sie. Schwarze Flecken schwammen ihr vor den Augen, aber sie bezweifelte, daß die irgend etwas mit der Programmierung in Mister J’s reizendem kleinen Höllenschlund zu tun hatten. Benommen wandte sie das Gesicht von dem blinden Ding ab und hörte, wie das Geheul wieder anfing.
    Renie fiel das Atmen schwer: ihre Stimme war schwach. »Leck mich, du Miststück. Zufallssprung.«
    Der Wechsel war überraschend prompt. Die Höhle löste sich auf, und einen Moment lang begann sich ein langer dunkler Flur vor ihren Augen zu bilden. Sie hatte den undeutlichen Eindruck einer schier endlosen Reihe von Leuchtern an den Wänden, jeder von einer körperlosen Hand gehalten, dann wurde sie plötzlich erneut versetzt – diesmal ohne ihren Befehl und gegen ihren Willen.
    Dieser Übergang ging nicht so glatt wie die anderen. Eine ganze Weile war das Bild verzerrt, daß ihr fast übel wurde, als ob die neue Szene sich nicht richtig scharf einstellen ließe. Sie fiel hin und fühlte weiche Erde – oder deren Simulation – unter ihrem schmerzenden Körper. Sie behielt die Augen geschlossen und streckte die Hand aus, bis ihre Finger !Xabbus stumme, reglose Form berührten. Sie konnte sich kaum vorstellen, sich noch einen Zentimeter weiter zu bewegen, aber sie wußte, daß sie aufstehen und nach einem Ausweg für sie beide suchen mußte.
    »Wir haben nur wenige Augenblicke«, sagte jemand. Trotz des dringenden Tons war es eine beruhigende Stimme, ungefähr in der Mitte zwischen der männlichen und der weiblichen Normalstimmlage. »Es wird ihnen diesmal viel leichter fallen, dich aufzuspüren.«
    Bestürzt schlug Renie die Augen auf. Sie war von einer Menschenmenge umringt, als ob sie ein Unfallopfer wäre, das auf einer belebten Straße lag. Dann merkte sie, daß die Formen um sie herum grau und bewegungslos waren. Alle bis auf eine.
    Die fremde Gestalt war weiß. Nicht weiß in dem Sinne, wie sie selbst schwarz war, nicht europid, sondern richtig weiß, von der blanken Reinheit makellosen Papiers. Der fremde Sim – denn ein Sim mußte es sein, da sie sich eindeutig noch innerhalb des Systems befand – war eine reine farblose Leere, als ob jemand mit einer Schere ein ungefähr menschengestaltes Loch in den Stoff der VR geschnitten hätte. Er pulsierte und flirrte an den Rändern, war nie völlig still.
    »Laß uns … in Ruhe.« Es war schwer, überhaupt zu sprechen: Sie bekam kaum Luft, und der Schmerz drückte in ihrem Brustkorb immer fester zu wie eine glühende Faust.
    »Das kann ich nicht, obwohl ich verrückt sein muß, ein solches Risiko einzugehen. Setz dich auf, und hilf mir mit deinem Freund.«
    »Rühr ihn nicht an!«
    »Laß den Unsinn. Eure Verfolger können euch jeden Moment entdecken.«
    Renie quälte sich auf die Knie hoch und rang taumelnd nach Atem. »Wer … wer bist du? Wo sind wir?«
    Das weiße Loch hockte sich neben !Xabbus regungslose Gestalt. Der fremde Sim hatte kein Gesicht und keinen klaren Umriß; Renie konnte nicht sagen, wohin er schaute. »Ich gehe schon genug Risiken ein. Ich kann dir nichts sagen – es kann immer noch sein, daß man euch erwischt, und das würde für andere den Tod bedeuten. Hilf mir jetzt, ihn anzuheben. Meine Körperkraft ist gering, und ich traue mich nicht, noch mehr Energie zu mobilisieren.«
    Renie kroch auf das formlose Paar zu und nahm dabei zum erstenmal ihre Umgebung wahr. Sie befanden sich auf so etwas wie einer offenen Rasenfläche unter einem dunkelgrauen Himmel, eingefaßt von hohen Bäumen und efeuüberwucherten Mauern. Die stummen Figuren, die sie umgaben, erstreckten sich Reihe um Reihe in alle Richtungen, wodurch das Ganze wie ein bizarres Mittelding zwischen einem Friedhof und einem

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