Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
ein. Sie hob den Arm mit einer schmerzhaften Anstrengung, die sie aufstöhnen ließ, doch es gelang ihr, die Visette hochzuklappen.
Ihre Umgebung wurde nur wenig klarer; sie sah immer noch hauptsächlich Grau, allerdings gab es jetzt außerdem dunkle Streifen darin. Dann begriff sie, daß die verschwommenen senkrechten Balken die Gurte waren, in denen sie leicht schaukelnd über dem Boden hing. Sie wandte sich zur Seite. !Xabbu baumelte neben ihr, aber es war der wirkliche !Xabbu in seinem wirklichen Körper. Während sie ihn anschaute, zitterte er konvulsiv und hob den Kopf. Seine Augen rollten bei dem Versuch, klar zu sehen.
» !Xabbu .« Ihre Stimme klang gedämpft. Sie hatte immer noch die Stöpsel in den Ohren, aber sie brachte nicht mehr die Kraft auf, noch einmal den Arm zu heben. Es gab etwas, was sie ihm sagen mußte, etwas Wichtiges. Renie stierte ihn an, versuchte sich darauf zu besinnen, aber ihr Kopf wurde schwer und immer schwerer. Als sie eben aufgeben wollte, fiel es ihr ein. »Ruf einen Krankenwagen«, sagte sie und lachte ein wenig über die Absurdität der Szene. »Ich glaube, ich sterbe.«
Kapitel
Hinter den Spiegeln
NETFEED/NACHRICHTEN:
Kalifornische »Mehrehen« jetzt Gesetz
(Bild: zwei Frauen und ein Mann, alle im Smoking, beim Betreten der Glide Memorial Church)
Off-Stimme: Während draußen vor der Tür Demonstranten ihre Sprechchöre riefen, wurde in einer Kirche in San Francisco die erste der frisch legalisierten polygamen Ehen Kaliforniens geschlossen. Der Mann und die beiden Frauen sagten, es sei »ein großer Tag für Menschen, die keine traditionellen Zweierbeziehungen haben«.
(Bild: Reverend Pilker in der Kanzel)
Dieser Meinung sind nicht alle. In den Augen von Reverend Daniel Pilker, dem Führer der fundamentalistischen Gruppe Kingdom Now, ist das neue Gesetz »der unwiderlegliche Beweis dafür, daß Kalifornien die Hintertür zur Hölle ist …«
Paul trat hindurch und war draußen. Das goldene Licht ging aus, und er befand sich wieder im Nichts.
Schwer und leer wie zuvor erstreckte sich der Nebel in alle Richtungen, aber sonst gab es nichts. Es gab auch weder Finch noch Mullett, was eine große Erleichterung war, aber Paul hatte gehofft, auf der anderen Seite des leuchtenden Durchgangs doch etwas mehr zu finden. Er war sich nicht ganz sicher, was »Zuhause« bedeutete, aber im stillen hatte er sich gewünscht, genau das finden.
Er sank auf die Knie und legte sich dann lang auf die harte, nackte Erde. Die Nebelschwaden trieben um ihn herum. Er schloß erschöpft die Augen, ohne Hoffnung oder Ideen, und überließ sich eine Weile dem Dunkel.
Das nächste, was er mitbekam, war ein leises Flüstern, ein dünnes Rascheln, das aus der Stille aufstieg. Eine warme Brise strich ihm übers Haar. Paul öffnete die Augen, dann setzte er sich verwundert auf. Ringsherum war ein Wald gewachsen.
Lange war er damit zufrieden, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen. Es war so lange her, daß er etwas anderes als zerbombte Schlammfelder gesehen hatte, und der Anblick lückenlos zusammenstehender Bäume und dichter, noch Laub tragender Äste tat seiner Seele wohl wie einem Durstigen ein Glas Wasser. Was spielte es für eine Rolle, daß die meisten Blätter gelb oder braun waren, daß viele bereits zur Erde gefallen waren und knöcheltief um ihn herum lagen? Allein die Rückkehr der Farbe erschien ihm als ein unschätzbares Geschenk.
Er stand auf. Seine Beine waren so steif, daß sie von jemand anders abgelegte Dinge hätten sein können, zu deren Benutzung die Notwendigkeit ihn zwang. Er tat einen tiefen Atemzug und roch alles, feuchte Erde, trockenes Gras, selbst einen ganz schwachen Anflug von Rauch. Die Düfte der lebendigen Welt durchdrangen ihn so stark und voll, daß Hunger in ihm wach wurde: Er überlegte plötzlich, wann er zum letztenmal etwas gegessen hatte. Corned beef und Zwieback, das waren bekannte Worte, aber er konnte sich nicht erinnern, was die damit benannten Dinge waren. Auf jeden Fall war es lange her und weit weg.
Die warme Luft umspielte ihn noch, aber er verspürte kurz eine innere Kälte. Wo war er gewesen? Er hatte die Erinnerung an einen dunklen, entsetzlichen Ort, aber was er dort gemacht hatte oder wie er dort entronnen war, war seinem Gedächtnis entfallen.
Daß er sich an so wenige Dinge erinnerte, hatte zur Folge, daß ihn ihr Fehlen nicht lange beschäftigte. Sonnenlicht schimmerte durch das Laub und machte Flecken, die durch den Wind, der
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