Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
verklang.
Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, und erdrückt von einer Last, die er nicht erklären konnte, legte er den Kopf in die Hände. Er saß noch immer in dieser Haltung, als eine Stimme ihn auffahren ließ.
»Holla, was soll das? Dies hier sind wackere Eichen, keine Trauerweiden.«
Der Fremde war nicht viel anders gekleidet als er, lauter derbe Braun- und Grüntöne, aber er trug einen breiten weißen Stoffstreifen um den Arm wie einen Verband oder ein Abzeichen. Seine Augen wirkten eigentümlich katzenhaft mit ihrem bräunlich gelben Ton. Er hielt in der einen Hand einen Bogen und in der anderen einen Lederschlauch; ein Köcher mit Pfeilen ragte ihm über die Schulter.
Da der Neuankömmling sich nicht feindlich verhielt, faßte er den Mut, ihn zu fragen, wer er sei. Der Fremde lachte über die Frage. »Die Frage ist hier fehl am Platz. Wer seid Ihr denn, wenn Ihr so schlau seid?«
Er machte den Mund auf, stellte aber fest, daß er sich nicht erinnern konnte. »Ich … ich weiß nicht.«
»Natürlich nicht. Das ist der Witz an diesem Wald. Ich war hinter einem… ich bin mir nicht sicher, seht Ihr, ich glaube, es war ein Hirsch, hinter dem ich her war. Und jetzt wird mir mein Name nicht mehr einfallen, bis ich wieder auf dem Weg hinaus bin. Wunderlich, dieser Wald.« Er hielt ihm den Schlauch hin. »Habt Ihr Durst?«
Der Trank war säuerlich, aber erfrischend. Als er ihn dem Fremden zurückgegeben hatte, fühlte er sich besser. Das Gespräch mochte verwirrend sein, aber wenigstens war es ein Gespräch. »Wohin geht Ihr? Wißt Ihr das? Ich habe mich verirrt.«
»Überrascht mich nicht. Wo ich hinwill? Na, raus. Nicht sehr empfehlenswert nach Einbruch der Dunkelheit, dieser Wald. Aber wie’s scheint, erinnere ich mich an einen Ort unmittelbar davor, der mir wie ein gutes Ziel vorkommt. Vielleicht ist das ein Ort, wie Ihr ihn sucht.« Der Fremde winkte. »Kommt jedenfalls mit. Wollen doch mal sehen, ob wir Euch nicht was Gutes tun können.«
Er sprang rasch auf die Füße, um nicht zu riskieren, daß die Einladung zurückgezogen wurde, wenn er sich zu lange Zeit ließ. Der Fremde arbeitete sich bereits durch ein Dickicht aus jungen Bäumen, die um den Leichnam ihres umgestürzten älteren Verwandten eine Hecke gebildet hatten.
Sie gingen eine Weile schweigend dahin, während das spätnachmittägliche Zwielicht allmählich ins Abenddunkel überging. Zum Glück schlug der Fremde einen gemäßigten Schritt an – er sah aus wie einer, der viel schneller hätte gehen können, wenn er gewollt hätte –, so daß seine dunkle Gestalt auch im schwindenden Licht unmittelbar vor ihm blieb.
Zuerst dachte er, es sei die Nachtluft, die kältere Schärfe trüge andere Geräusche an sein Ohr, andere Gerüche in seine Nase. Dann merkte er, daß es vielmehr andere Gedanken waren, die ihm auf einmal durch den Kopf zogen.
»Ich war … irgendwo anders.« Der Klang seiner eigenen Stimme war seltsam nach der langen Zeit ohne Worte. »Im Krieg, glaube ich. Ich bin weggelaufen.«
Sein Gefährte knurrte. »Im Krieg.«
»Ja. Jetzt kommt’s mir wieder – ein bißchen was jedenfalls.«
»Wir nähern uns dem Waldrand, daher kommt das. Also weggelaufen seid Ihr, was?«
»Aber … aber nicht aus den üblichen Gründen. Denke ich wenigstens.« Er verstummte. Irgend etwas sehr Wichtiges trieb aus der Tiefe seines Unterbewußten nach oben, und er hatte auf einmal Angst, er könnte zu ungeschickt danach greifen und es abermals an die Dunkelheit verlieren. »Ich war in einem Krieg, und ich bin weggelaufen. Ich bin durch … eine Tür gekommen. Oder etwas anderes. Durch einen Spiegel. Eine Öffnung.«
»Spiegel.« Der andere schritt jetzt ein wenig rascher aus. »Gefährliches Zeug.«
»Und … und …« Er ballte die Fäuste, als ob das Gedächtnis sich wie ein Muskel anspannen ließe. »Und … ich heiße Paul.« Er lachte erleichtert. »Paul.«
Der Fremde blickte über die Schulter. »Komischer Name. Was soll er bedeuten?«
»Bedeuten? Er bedeutet gar nichts. Ich heiße einfach so.«
»Dann ist das ein merkwürdiger Ort, wo Ihr herkommt.« Der Fremde verstummte einen Moment, wenn auch seine Beine weiter lange Schritte machten, so daß Paul sich anstrengen mußte, um mitzuhalten. »Ich bin Wäldler«, sagte er schließlich. »Auch Hans vom Wald genannt, oder Hans Wäldler. Ich heiße so, weil ich tatsächlich durch alle Wälder nah und fern ziehe – sogar durch diesen, obwohl ich ihn nicht besonders mag.
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