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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die Bäume aufrührte, wie goldene Fische schwammen. Wo er auch gewesen sein mochte, jetzt war er jedenfalls an einem Ort des Lebens, einem Ort mit Licht und sauberer Luft, einem Teppich aus dürren Blättern und sogar – er neigte den Kopf – dem fernen Gesang eines Vogels. Wenn er sich nicht an seine letzte Mahlzeit erinnern konnte, na gut, ein Grund mehr, sich nach der nächsten umzuschauen. Er sollte losgehen.
    Er blickte an sich hinunter. Seine Füße steckten in schweren Lederschuhen, und das immerhin kam ihm bekannt und richtig vor, aber ansonsten schien ihm nichts an seiner Kleidung so, wie es sein sollte.
    Er trug schwere Wollstrümpfe und Hosen, die nicht weit unterm Knie endeten, dazu ein dickes Hemd und eine dicke Weste, ebenfalls aus Wolle. Der Stoff fühlte sich unter den Fingern eigentümlich rauh an.
    Der Wald erstreckte sich in alle Richtungen und ließ nichts erkennen, was wie eine Straße oder auch nur wie ein Fußweg aussah. Er sinnierte einen Moment und versuchte sich darauf zu besinnen, in welche Richtung er vor seiner Rast gegangen war, aber auch das war ihm entfallen, so spurlos verflogen wie der triste Nebel, der jetzt das einzige war, wovon er mit Sicherheit sagen konnte, daß es vor dem Wald dagewesen war. Da er die freie Wahl hatte und er die langen Schatten sah, kehrte er der Sonne den Rücken zu. Wenigstens würde er seinen Weg deutlich sehen können.
     
    Er hatte den sporadischen Vogelgesang lange gehört, bevor er schließlich den Sänger erblickte. Er hatte sich gerade hingekniet, um seinen Strumpf von einem Dornstrauch loszumachen, als direkt vor ihm etwas Leuchtendes durch eine Sonnenscheinsäule glitt, ein flinker Strich von einem sowohl dunkleren wie auch glänzenderen Grün als das Moos, das die Baumstämme und Steine überzog. Er richtete sich auf und hielt Ausschau, aber der Vogel war schon in den Schatten zwischen den Bäumen verschwunden; das einzige, was blieb, war ein pfeifendes musikalisches Trillern, das eben laut genug war, um ein eigenes Echo zu geben.
    Mit einem Ruck riß er sich von dem Dornstrauch los und eilte in die Richtung, in die der Vogel geflogen war. Da es keinen Weg gab, dachte er, daß er genauso gut einem hübschen Führer folgen konnte, wie ohne klareres Ziel vor Augen weiterzutrotten. Er war für sein Empfinden schon stundenlang gegangen und hatte in dem endlosen Wald noch kein Zeichen einer Veränderung bemerkt.
    Der Vogel kam nie nahe genug, um ganz deutlich erkennbar zu sein, aber genauso wenig entschwand er den Blicken völlig. Er flatterte von Baum zu Baum voraus und hielt dabei immer ein paar Dutzend Schritte Abstand. Bei den wenigen Gelegenheiten, wo der Zweig, den der Vogel sich als Ruheplatz erwählte, im Sonnenschein lag, konnte er seine smaragdgrünen Federn glänzen sehen – ein geradezu unmögliches Leuchten, wie von einem inneren Licht durchglüht. Es gab noch Andeutungen anderer Farben, ein düsteres Abendhimmelviolett, eine dunklere Schattierung an der Haube. Auch das Lied wirkte irgendwie nicht gewöhnlich, obwohl er sich an keine anderen Vogellieder zum Vergleich erinnern konnte. Eigentlich konnte er sich, was andere Vögel betraf, an kaum etwas erinnern, aber er wußte, daß dies einer war, daß sein Lied ebenso wohltuend wie verlockend war, und das zu wissen, reichte aus.
    Der Nachmittag ging dahin, und die dem verdeckten Horizont entgegensinkende Sonne zog sich aus den Lücken in den Baumwipfeln zurück. Er hatte schon lange aufgehört, sich Gedanken darüber zu machen, aus welcher Richtung sie schien, so sehr hatte ihn seine Verfolgung des grünen Vogels in Anspruch genommen. Erst als es ringsherum dunkel zu werden begann, wurde ihm klar, daß langsam der Abend graute und er sich in einem wegelosen Wald verirrt hatte.
    Er blieb stehen, und der Vogel ließ sich keine drei Schritte von ihm entfernt auf einem Zweig nieder, legte den Kopf schief – ja, er hatte eine dunkle Haube – und ließ ein melodisches Trillern ertönen, in dem bei aller Munterkeit doch so etwas wie eine Frage schwang und etwas noch schwerer Definierbares, das ihn aber plötzlich mit Trauer über seine verlorene Erinnerung, über seine Orientierungslosigkeit, über seine Einsamkeit erfüllte. Da breitete der Vogel mit einem schnellen Schwanzschlag, der die abendviolette Tönung darunter aufdeckte, die Flügel aus, stieg kreiselnd in die Luft empor und verschwand in den dämmerigen Schatten. Eine letzte Tonfolge schwebte zum ihm herab, unendlich traurig, und

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