Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Skulpturengarten wirkte. Jede Gestalt war die eines Menschen, manche individuell sehr ausgeprägt, andere so konturlos wie die Sims, die sie und !Xabbu hatten. Jeder war in einer Bewegung der Furcht oder Überraschung erstarrt. Manche standen schon lange so und hatten wie die verlassenen Gebäude von Toytown ihre Farben und Texturen verloren, aber die meisten sahen brandneu aus.
Die fremde Gestalt hob den Kopf, als Renie näherkam. »Wenn den Gästen etwas zustößt, während sie online sind, bleiben ihre Sims hier.
Die Besitzer dieses Clubs finden es … amüsant, ihre Trophäen auf die Art zu sammeln.«
Renie griff !Xabbu unter die Arme und brachte ihn in eine sitzende Haltung. Vor Anstrengung wurden die Ränder ihres Gesichtsfeldes vorübergehend schwarz; sie schwankte und hatte Mühe, bei Bewußtsein zu bleiben. »Kann sein, daß ich … einen Herzanfall habe«, flüsterte sie.
»Ein Grund mehr, sich zu beeilen«, sagte der leere Fleck. »Gut, halt ihn ruhig. Er ist weit weg, und wenn er nicht zurückkehrt, wirst du ihn nicht mit offline nehmen können. Ich muß ihn holen lassen.«
»Holen lassen …?« Renie konnte kaum die Worte bilden. Sie fühlte sich hundemüde, und obwohl das einem Teil von ihr Angst machte, war es doch ein kleiner und immer kleiner werdender Teil. Dieses menschengestalte Loch, der seltsame Garten – das waren bloß noch weitere Komplikationen einer ohnehin schon komplizierten Situation. Schwierig, da durchzusteigen … sie sollte sich lieber einfach hinlegen und schlafen…
»Der Honiganzeiger wird ihn zurückbringen.« Der fremde Sim hob die unförmigen weißen Klumpen hoch, die seine Hände darstellten, als wollte er beten, aber hielt sie ein kleines Stück auseinander. Als nichts geschah, meinte Renie, die Energie zu einer weiteren Frage aufbringen zu müssen, aber die konturlose Gestalt war so starr und stumm geworden wie die anderen Figuren, die den Trophäengarten bevölkerten. Renie fühlte, wie sich ein kalter Schleier der Einsamkeit auf sie legte. Jetzt war alles verloren. Alle waren fort. Warum noch weiter kämpfen, wenn sie doch loslassen konnte, schlafen …?
Etwas regte sich zwischen den Händen der Gestalt, dann wurde dort eine Art Öffnung sichtbar, ein noch tieferes Nichts, als ob ein Schatten auf die leere Luft gefallen wäre. Die Dunkelheit zuckte, zuckte noch einmal, dann kam eine andere weiße Gestalt herausgeflattert. Dieser kleinere blanke Fleck, der den Umriß eines Vogels hatte, so wie der erste den eines Menschen, flatterte auf die Schulter von !Xabbus Sim und vibrierte dort einen Moment lang sacht wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling, der seine Flügel trocknet. Mit träger Faszination sah Renie zu, wie die winzige weiße Form dicht an !Xabbus Ohr – oder an die krude Ausstülpung an seinem Simuloiden, die es darstellen sollte – heranhopste, als wollte sie ihm ein Geheimnis mitteilen. Sie hörte ein hohes Trillern, dann erhob sich das Vogelding in die Luft und verschwand.
Ein abruptes Zittern brachte wieder Bewegung in die größere Leere. Sie sprang auf und klatschte in die rudimentären Hände. »Geh jetzt. Rasch.«
»Aber …« Renie sah nach unten. !Xabbu regte sich. Eine seiner Simhände krampfte sich mehrmals zusammen, als wollte er etwas fangen, das weggeflogen war.
»Du kannst ihn jetzt mit zurücknehmen. Und das hier mußt du auch mitnehmen.« Die Gestalt griff in sich hinein und zog etwas sanft bernsteingelb Schimmerndes hervor. Renie starrte darauf. Das weiße Nichts nahm mit dem anderen Arm ihre Hand, bog ihre verkrallten Finger auf und legte ihr das Ding hinein. Einen Moment lang wunderte sie sich über die profane und ganz gewöhnliche Berührung der gespenstischen Erscheinung, dann schaute sie sich an, was sie bekommen hatte. Es war ein rundes gelbes Juwel mit Hunderten von Facetten.
»Was … was ist das?« Es wurde zusehends schwer, sich auf irgend etwas zu besinnen. Wer war diese glänzende weiße Gestalt? Was sollte sie jetzt tun?
»Keine Fragen mehr«, sagte ihr Gegenüber scharf. »Geh!«
Renie blickte auf die Stelle, wo das Gesicht hätte sein sollen. Etwas ging ihr vage durch den Kopf, ganz tief, und sie bemühte sich, es zu erfassen.
»Geh jetzt!«
Sie faßte !Xabbu etwas fester. Er fühlte sich dünn wie ein Kind an. »Ja. Natürlich. Ende.«
Der Garten platzte wie eine Seifenblase.
Alles war ganz dunkel. Einen Moment lang meinte Renie, sie wären beim Übergang hängengeblieben, dann fiel ihr das Headset
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