Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
sie noch war; selbst diese kleine Anstrengung brachte sie ganz außer Atem. »Hast du die Goggles mitgebracht? Es geht so viel langsamer, wenn man am flachen Bildschirm arbeitet.«
!Xabbu zog die Etuis mit dem aufgedruckten Logo der Technischen Hochschule aus der Tasche. Renie nahm die beiden Datenbrillen heraus, beide nicht viel größer als eine Sonnenbrille, fand in dem Kabelsalat neben sich einen Y-Anschluß und stöpselte das Gogglekabel und ein Paar Squeezer in ihr Pad ein.
Als sie !Xabbu eine der Brillen hinhielt, nahm er sie nicht gleich.
»Was ist los?«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich hatte keine Kontrolle mehr, Renie. Ich habe dich im Stich gelassen, als wir an diesem Ort waren.«
»Wir werden nicht mal in die Nähe kommen – außerdem ist das hier sowieso bloß eine Bildschirmbrille mit Ton, keine volle Immersion. Wir wollen lediglich in die Infobanken der TH und ein paar andere Subnetze rein. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
»Es ist nicht so sehr Furcht, was mich zögern läßt, obwohl es gelogen wäre, wenn ich behaupten wollte, ich würde mich nicht fürchten. Aber es ist mehr. Ich muß dir einiges erzählen, Renie – darüber, was mir dort widerfahren ist.«
Sie wartete, wollte ihn nicht drängen. Trotz seiner Geschicklichkeit, sagte sie sich, war ihm das alles doch noch sehr neu – all das, was ihr ganz selbstverständlich war. »Ich muß dir auch einiges zeigen. Ich verspreche dir, es wird nicht schlimmer sein, als im Labor an der Uni zu arbeiten. Danach möchte ich sehr gern hören, was du zu erzählen hast.« Sie reichte ihm abermals die Brille, und diesmal nahm !Xabbu sie an.
Aus dem leeren Grau entstanden rasch die geordneten Polygone ihres persönlichen Systems – ein einfacher Aufbau ähnlich einem häuslichen Büro, mit viel weniger Möglichkeiten, als ihr in der TH zur Verfügung standen. Sie hatte ihm mit ein paar Bildern an der Wand und einem Glas mit tropischen Fischen so etwas wie eine persönliche Note verliehen, aber ansonsten war es kalt und funktional, die Umgebung von einer, die immer in Eile war. Sie sah nicht, daß sich daran in nächster Zeit etwas ändern würde.
»Wie lange waren wir in dem Club, drei Stunden? Vier?« Sie befingerte die Squeezer, und aus einem der Polygone wurde ein Fenster. Kurz darauf erschienen das Logo und die Warntafel der Technischen Hochschule. Renie gab ihren Zugangscode ein, und augenblicklich wurde die künstliche Mediathek aufgebaut. »Hab ein wenig Geduld«, sagte sie. »Ich bin es gewöhnt, bei der Arbeit hier gewissermaßen die Hände frei zu haben, aber heute sind wir auf diese Fummeldinger angewiesen, die ziemlich primitiv sind.«
Es war seltsam, sich durch ein so vertrautes und realistisches Environment zu bewegen, aber nicht direkt auf etwas reagieren zu können; wenn sie eines der symbolischen Objekte bearbeiten wollte, konnte sie nicht danach greifen, sondern mußte sich die völlig anderen Verrichtungen überlegen, die nötig waren, um eine Richtung einzugeben.
»Hier«, sagte sie, als sie schließlich das Informationsfenster geöffnet hatte, das sie haben wollte, »ich wollte, daß du das siehst, die Einträge der TH für den Tag.« Zahlenreihen rollten rasch an ihnen vorbei. »Hier ist der Vorspann des Gurtraums, sämtliche Verbindungen. Da ist unsere Anmeldung. Das ist mein Zugangscode, stimmt’s?«
»Ich sehe es.« !Xabbus Stimme war ruhig, aber reserviert.
»Dann überflieg das hier mal. Das ist unser Benutzungsprotokoll. Keine Verbindung außer im internen Hochschulsystem.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das heißt, daß wir uns dem hier zufolge niemals ins Netz eingeloggt haben, daß wir uns überhaupt nie in den kommerziellen Knoten namens ›Mister J’s‹ begeben haben. Alles, was wir erlebt haben, das Wasserbecken, das Meeresungeheuer, der riesige Hauptsaal, das alles ist nie passiert. So bezeugen es jedenfalls die Daten der TH.«
»Das verwirrt mich, Renie. Vielleicht kenne ich mich mit diesen Dingen doch noch nicht so gut aus, wie ich dachte. Wie kann das sein, daß es keinen Eintrag gibt?«
»Ich weiß es nicht!« Renie drückte die Squeezer. In der Gogglewelt verschwanden die Listen der TH, und ein anderes Fenster ging auf. »Schau dir das an – auf meinen persönlichen Konten wurde alles gelöscht, sogar auf denjenigen, die ich eigens für den Zweck angelegt hatte. Die ganze Verbindungszeit wurde mir nicht berechnet, der Hochschule nicht – niemandem! Es gibt keinen einzigen Beleg
Weitere Kostenlose Bücher