Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
verfolgte sie und wartete darauf, daß das Gift Wirkung zeigte.
Aber die Elen wurde nicht langsamer und zeigte keinerlei Anzeichen von Schwäche. Den ganzen Tag darauf verfolgte er sie, aber er kam nie nahe genug heran, um noch einen Pfeil abzuschießen. Die Elen lief schnell. Die Straußeneier meines Vaters waren leer, und es gab kein Trockenfleisch mehr in seinem Beutel, aber er hatte keine Zeit, nach Wasser oder nach Eßbarem zu suchen.
Zwei weitere Tage verfolgte er das Tier durch den Sand, bei glühender Sonne und kaltem Mond. Die Elen lief immer nach Südosten, dorthin, wo die Wüste in einem Flußdeka endete, das vorher ein großes Sumpfgebiet gewesen war. Mein Vater war noch nie im Leben so nahe am Okawango gewesen – seine Leute, die früher in jeder Jahreszeit tausend Meilen weit gezogen waren, beschränkten sich jetzt zu ihrer Sicherheit auf die unzugänglichsten inneren Regionen der Wüste. Aber er war vor Hunger und Erschöpfung und Furcht ein klein wenig verrückt geworden, oder vielleicht war auch ein Geist in ihm. Er war entschlossen, die Elenantilope zu erlegen. Er war mittlerweile sicher, daß sie ein Geschenk vom Mantis war und daß, wenn er sie zurück zu seinem Volk brächte, der Regen wiederkäme.
Am vierten Tag schließlich, nachdem er die Elen angeschossen hatte, stolperte er durch die Randgebiete der Wüste, über die Hügel in die Ausläufer des Okawangobeckens. Aber natürlich war der Sumpf bei der großen Dürre ebenfalls ausgetrocknet, und so fand er nichts als rissige Erde und tote Bäume. Aber immer noch sah er die Elen vor sich herlaufen, vage wie ein Traum, sah ihre Spur im Staub, und so ging er weiter.
Er ging die ganze Nacht durch diese unbekannte Gegend, wo Krokodilsknochen und Fischgräten weiß im Mondschein schimmerten. Die Leute meines Vaters lebten auf die althergebrachte Art – jeden Felsen und jeden Sandhügel, jeden Baum und jeden Dornstrauch der Wüste kannten sie genauso, wie Stadtmenschen die Gewohnheiten ihrer Kinder oder die Einrichtung ihrer Häuser kennen. Aber jetzt war er an einem Ort, den er nicht kannte, und hinter einer großen Elen her, die er für einen Geist hielt. Er war schwach und fürchtete sich, aber er war ein Jäger, und seine Leute waren in furchtbarer Not. Er betete zu den großmütterlichen Sternen um Weisheit. Als der Morgenstern, der der allergrößte Jäger ist, endlich am Himmel erschien, betete mein Vater auch zu ihm. ›Mach mein Herz wie dein Herz‹, bat er den Stern. Er bat um den Mut, den er zum Überleben brauchte, denn er war sehr schwach geworden.
Als die Sonne am Himmel aufging und das Land abermals verbrannte, erblickte mein Vater die Gestalt der Elen neben einem fließenden Wasser. Bei dem Anblick von so viel Wasser und dem Geistertier endlich in greifbarer Nähe tat meinem Vater der Kopf weh, und er fiel zu Boden. Er kroch auf die Elen zu, doch aus seinen Armen und Beinen wich die letzte Kraft, und er konnte nicht mehr weiterkriechen. Aber als ihm schon die Sinne schwanden, sah er noch, daß die Elen ein schönes Mädchen geworden war – ein Mädchen unseres Volkes, aber mit einem unbekannten Gesicht.
Es war meine Mutter, die früh am Morgen aufgestanden war, um zum Wasser zu gehen. Die Dürre hatte zur Folge, daß sogar das große Flußdelta nahezu trocken war, und sie und ihre Familie mußten einen weiten Weg von ihrem winzigen Dorf am Straßenrand zurücklegen, um Wasser zu holen. Meine Mutter sah diesen Jäger aus der Wüste kommen und ihr ohnmächtig zu Füßen fallen, und sie sah, daß er dem Sterben nahe war. Sie gab ihm zu trinken. Er leerte ihren Krug, dann trank er beinahe das kleine Rinnsal leer. Als er wieder gehen konnte, nahm sie ihn zu ihrer Familie mit.
Die Älteren konnten noch seine Sprache. Während die Eltern meiner Mutter ihm zu essen gaben, stellten ihm die Großeltern viele Fragen und schnalzten verwundert darüber, einen Mann wie aus ihren frühen Erinnerungen zu sehen. Er aß, aber sagte nicht viel. Obwohl diese Leute ganz ähnlich aussahen wie er, hatten sie merkwürdige Bräuche, doch er bemerkte kaum, was sie taten. Er hatte nur Augen für meine Mutter. Und sie, die noch nie einen Mann vom alten Schlag gesehen hatte, hatte nur Augen für ihn.
Er konnte nicht bleiben. Er hatte die Elen verloren, aber wenigstens konnte er seiner Familie und seinen Leuten Wasser heimbringen. Außerdem waren ihm die Fremden nicht recht geheuer, ihre sprechende Kiste, ihre fremde Kleidung und ihre fremde Sprache.
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