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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verstand kaum noch die Sprache. Er und meine Mutter hatten zwei Töchter, meine Schwestern. Wir wurden alle auf die Schule geschickt. Meine Mutter verlangte, daß wir die städtischen Bräuche lernten, damit wir uns schützen konnten, wie es mein Vater nicht gekonnt hatte.
    Meine Mutter stellte den Kontakt zu den Leuten meines Vaters nicht ganz ein. Wenn einige der weiter umherstreifenden Buschleute ins Dorf kamen, um zu tauschen, gab ihnen meine Mutter Botschaften mit. Eines Tages, ich war vielleicht zehn Jahre alt, kam mein Onkel aus der Wüste. Mit dem Segen meiner Mutter nahm er mich mit, damit ich meine Verwandten kennenlernte.
    Ich werde dir nicht die Geschichte der Jahre erzählen, die ich bei ihnen verbrachte. Ich erfuhr viel, über meinen Vater ebenso wie über die Welt, in der er gelebt hatte. Ich lernte die Menschen lieben und auch um sie bangen. Selbst in meinem jungen Alter erkannte ich, daß ihre Lebensweise am Aussterben war. Sie wußten es selber. Obwohl sie nie etwas Derartiges sagten – das ist bei meinem Volk nicht Sitte –, denke ich oft, daß sie hofften, sie könnten durch mich etwas retten von der Weisheit des Großvaters Mantis, der alten Bräuche. Wie ein Schiffbrüchiger auf einer Insel, der einen Brief schreibt und ihn in eine Flasche steckt, wollten sie mich, denke ich, in die Stadtwelt schicken als einen, der sich in seinem Innern etwas von unserem Volk bewahrt hatte.«
    !Xabbu ließ den Kopf hängen. »Und meine erste große Schande ist, daß ich viele Jahre nach der Rückkehr in das Dorf meiner Mutter nicht mehr daran dachte. Nein, das stimmt nicht, denn ich dachte oft an die Zeit mit den Leuten meines Vaters und werde immer daran denken. Aber ich dachte wenig daran, daß sie eines Tages verschwunden wären, daß von der alten Welt fast nichts mehr übrig wäre. Ich war jung und hielt das Leben für etwas Grenzenloses. Ich war versessen darauf, alles zu lernen, und hatte vor nichts Angst – die Aussicht auf die Stadtwelt mit all ihren Wundern erschien mir viel faszinierender als das Leben im Busch. Ich strengte mich in der kleinen Schule sehr an, und ein wichtiger Mann im Dorf gewann Interesse an mir. Er erzählte einer Gruppe von mir, die sich ›Der Kreis‹ nannte. Das sind Leute aus der ganzen Welt, die sich für ›autochthone Kulturen‹ einsetzen, wie die Städter dazu sagen. Mit ihrer Hilfe schaffte ich es, in derselben Stadt, in der mein Vater gestorben war, in einer Schule aufgenommen zu werden, einer guten Schule. Meine Mutter bangte um mich, aber in ihrer Weisheit ließ sie mich gehen. Zumindest denke ich, daß es Weisheit war.
    Also lernte ich nach Kräften, und ich lernte andere Lebensformen als die meines Volkes kennen. Ich wurde mit Dingen vertraut, die für dich so normal sind wie Wasser und Luft, für mich aber anfangs fremd und beinahe magisch waren – elektrisches Licht, Wandbildschirme, sanitäre Einrichtungen. Ich machte mich mit der Wissenschaft der Menschen bekannt, die diese Dinge erfunden hatten, und lernte auch etwas über die Geschichte der weißen und schwarzen Völker, aber in allen Büchern, in allen Netzfilmen fand sich so gut wie nichts über mein eigenes Volk.
    Wenn das Schuljahr aus war, kehrte ich stets zur Familie meiner Mutter zurück, um bei den Schafen zu helfen und Fischnetze zu legen. Von denen, die auf die althergebrachte Art lebten, kamen immer weniger zum Tauschen ins Dorf. Mit den Jahren fragte ich mich, was aus den Leuten meines Vaters geworden war. Ob sie wohl immer noch in der Wüste lebten? Ob mein Onkel und seine Brüder immer noch den Elentanz tanzten, wenn sie eines der großen Tiere erlegt hatten? Ob meine Tante und ihre Schwestern immer noch Lieder darüber sangen, wie die Erde sich nach dem Regen sehnt? Ich beschloß, sie besuchen zu gehen.
    Und hier ist meine zweite Schande. Obwohl es ein gutes Jahr gewesen war, obwohl es reichlich geregnet hatte und die Wüste freundlich und voller Leben war, wäre ich auf der Suche nach ihnen fast gestorben.
    Ich hatte viel von dem verlernt, was sie mir beigebracht hatten – ich war wie ein Mann, der alt wird und seine Sehkraft verliert, seine Hörkraft. Die Wüsten und die trockenen Berge hüteten ihre Geheimnisse vor mir.
    Ich überlebte, aber nur knapp, nach viel Durst und Hunger. Es dauerte lange, bis ich den Rhythmus des Lebens fühlen konnte, wie die Familie meines Vaters es mich gelehrt hatte, bis ich wieder das Ticken in der Brust fühlen konnte, das mir sagte, daß Wild in der

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