Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
sie Heuchler …«
> Eine neonrote Linie kroch am Rand seines Gesichtsfeldes entlang, als ob eines der Äderchen in seinen Augen plötzlich sichtbar geworden wäre. Die Linie wand und krümmte sich, trennte und vereinigte sich wieder und zeigte damit an, daß das dadurch symbolisierte Experten-System seine Arbeit tat. Dread lächelte. Beinha e Beinha trauten seinen Zusicherungen nicht – sie wollten sein virtuelles Büro genauso gut kennen wie ihr eigenes. Nicht daß er etwas anderes erwartet hätte. Im Gegenteil, trotz mehrfacher gedeihlicher Zusammenarbeit hätte er ernste Zweifel an seiner Entscheidung gehabt, sie wieder zu beschäftigen, wenn sie sich einfach auf sein Wort verlassen hätten.
Selbstsicher, großspurig, faul, tot. Das war das Mantra des Alten Mannes und ein gutes dazu, auch wenn Dread die Grenzen manchmal woanders zog, als der Alte Mann es getan hätte. Immerhin, er war am Leben, und in einem Geschäft wie dem seinen war das das einzige Kriterium des Erfolgs – es gab keine Versager, die nur mit Armut bezahlen mußten. Freilich, der Alte Mann hatte etwas, das für seine größere Vorsicht sprach – er war schon länger am Leben als sein bezahlter Killer. Viel länger.
Dread vergrößerte das abstrakte Farbfeld vor dem einzigen Fenster des Büros und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder der virtuellen weißen Wand zu, während das Gear der Beinhas mit der Überprüfung der Sicherheit seines Knotens langsam zum Ende kam. Als es zufriedengestellt war, schaltete es sich aus, so daß die rote Linie aus Dreads Monitorprogramm verschwand, und augenblicklich kamen die Beinha-Zwillinge ins Bild.
Sie erschienen als zwei gleiche, aber nahezu konturlose Gebilde, die ihm gegenüber am Tisch saßen wie zwei benachbarte Grabsteine. Die Schwestern Beinha hielten nichts von hochklassigen Sims für persönliche Begegnungen und erachteten Dreads teures Double zweifellos für eine sinnlose und protzige Maßlosigkeit. Er freute sich schon auf ihre Indigniertheit: Die Ticks anderer Profis zu registrieren, selbst seiner Feinde, war seine größtmögliche Annäherung an die Zärtlichkeit, mit der gewöhnliche Sterbliche die Marotten ihrer Freunde betrachteten.
»Herzlich willkommen, meine Damen.« Er deutete auf den simulierten schwarzen Marmortisch und das Teeservice aus Yixing-Steingut, das für virtuelle Geschäfte mit Kunden aus Pazifisch-Asien so wichtig war, daß Dread es in die Dauereinrichtung seines Büroenvironments aufgenommen hatte. »Kann ich euch etwas anbieten?«
Er konnte den von den Zwillingsgestalten ausgehenden Unmut förmlich fühlen. »Wir vertun unsere Netzzeit nicht mit theatralischen Mätzchen«, sagte eine von ihnen. Seine Zufriedenheit wuchs – sie waren verärgert genug, um es nicht zu verbergen. Der erste Punkt ging an ihn.
»Wir sind hier, um zu verhandeln«, sagte die andere gesichtslose Gestalt.
Er konnte sich nie ihre Namen merken. Xixa und Nuxa oder so ähnlich, elfische Indionamen, die so gar nicht zu ihren wirklichen Personen paßten und die sie bekommen hatten, als sie noch die Kinderstars eines Bordells in São Paulo waren. Wobei es völlig egal war, ob er sie sich merkte oder nicht: Die beiden agierten so sehr als Einheit, daß jede auch Fragen beantwortete, die an die andere gerichtet waren. Die Schwestern Beinha hielten Namen fast ebenso sehr für sentimentalen Luxus wie realistische Sims.
»Also verhandeln wir«, sagte er vergnügt. »Ihr habt über das Projekt nachgedacht, nehme ich an.«
Das kurze Stocken vor der Entgegnung verriet abermals Indigniertheit. »Das haben wir. Es läßt sich machen.«
»Es wird nicht leicht sein.« Er meinte, die zweite hätte gesprochen, aber sie benutzten die gleiche digitalisierte Stimme, so daß es schwer zu sagen war. Die Schwestern zogen eine eindrucksvolle Nummer ab – sie schienen ein Gehirn zu sein, das zwei Körper bewohnte.
Und wenn es nun wirklich nur eine Person ist? ging es ihm auf einmal durch den Kopf. Jedenfalls habe ich im RL noch nie mehr als eine von ihnen gesehen. Wenn nun die ganze Geschichte mit den »tödlichen Zwillingsschwestern« nur ein Reklametrick ist? Dread schob den interessanten Gedanken zur späteren Begutachtung beiseite. »Wir sind bereit, 350.000 Schweizer Kredite dafür zu bezahlen. Plus belegte Spesen.«
»Das ist inakzeptabel.«
Dread zog eine Braue hoch. Er wußte, daß sein Sim den Effekt genau reproduzieren würde. »Dann sieht es so aus, als müßten wir einen anderen
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