Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
seinen Becher Met.
Das Geräusch leiser Schritte ließ ihn nicht aufblicken, aber seine Muskeln spannten sich. Sein geöltes Runenschwert Raffzahn stak locker in der Scheide, immer bereit, augenblicklich herauszufahren und jedem den Tod zu bringen, der leichtsinnig genug war, einen hinterhältigen Angriff auf die Geißel von Mittland zu verüben.
»Thargor? Bist du’s?« Es war sein einstiger Gefährte Pithlit, der sich in einen grauen Reiseumhang gehüllt hatte, um sich vor der kalten Abendluft zu schützen – und auch um seine Identität zu verbergen: Der kleine Bandit hatte zu oft in den verwickelten politischen Intrigen der Diebeszunft mitgemischt und war derzeit im Viertel nicht allzu wohl gelitten.
»Ja, ich bin’s. Verdammt! Warum hast du so lange gebraucht?«
»Ich wurde von anderen Pflichten aufgehalten – einem gefährlichen Auftrag.« Pithlit klang nicht sehr überzeugend. »Nun aber bin ich da. Habe die Güte, mir zu sagen, wohin die Reise geht.«
»Noch zehn Minuten, und ich wär ohne dich gegangen.« Thargor erhob sich schnaubend. »Komm jetzt. Und hör um Gottes willen auf, so zu reden. Das hier ist kein Spiel mehr.«
»Und wir begeben uns zum Hause des Zauberers Senbar-Flay?« Fredericks hatte noch nicht ganz auf Normalton umgestellt.
»Darauf kannst du Gift nehmen. Er war es, der mich damals in diese Gruft geschickt hat, und ich will wissen, warum.« Orlando unterdrückte seine Ungeduld. Am liebsten wäre er direkt in Flays Festung gesprungen, aber mit Entfernungen und Wegzeiten nahm man es in der Simwelt Mittland sehr genau: Wenn man nicht einen Ortswechselzauber gut hatte oder ein Wunderroß besaß, bewegte man sich im RL-Tempo fort. Nur weil er sich nicht mehr durch die normalen Komplikationen des Spieles wursteln wollte, konnte er noch lange nicht die Regeln ändern. Wenigstens war sein Pferd das mittländische Spitzenmodell.
»Aber wieso kannst du überhaupt hier sein?« Fredericks Stimme hatte einen besorgten Unterton. »Du bist getötet worden. Thargor, meine ich.«
»Schon, aber ich hab beschlossen, doch noch einen Antrag auf Überprüfung zu stellen. Allerdings wird das Hohe Schiedsgericht das, was ich gesehen habe, nicht finden können – der ganze Teil des Spielprotokolls ist einfach futsch. Deshalb wird die Stadt ein Geheimnis bleiben.«
»Aber wenn die Richter sie nicht finden, werden sie einfach Thargors Tod bestätigen.« Fredericks spornte sein Pferd an, das immer weiter hinter Orlandos schnelleren Schwarzwind zurückgefallen war. »Sie werden niemals nur auf dein Wort hin ein Geschehen für ungültig erklären.«
»Das weiß ich, Scänboy. Aber solange sie prüfen, bleibt Thargor bis zur offiziellen Toterklärung am Leben. Und ich kann in Mittland viel schneller rumkommen und viel mehr erfahren, wenn ich er bin, als wenn ich als Klaus Klitzeklein der kühne Knappe oder sowas wieder von vorn anfangen muß.«
»Oh.« Fredericks dachte einen Moment darüber nach. »He, das ist ja megaclever, Gardino. Ungefähr so, als ob du gegen Kaution freikommst, damit du deine Unschuld beweisen kannst, wie in dem Streifen mit Johnny Icepick.«
»Ungefähr.«
Die Stadt war in dieser Nacht still, das heißt die Straßen waren es, und das nicht zufällig, denn fast überall fanden gerade die Halbjahresprüfungen statt. Madrikhor, hatte ein Journalist einmal geschrieben, glich ein wenig einem Strandstädtchen in Florida: Die Einwohnerzahl sank immer, wenn die Schule wieder losging, und war im Sommer, in den Frühlingsferien und um Weihnachten am höchsten. Die Silvesterfete auf dem König-Gilathiel-Platz von Madrikhor unterschied sich nicht sehr von einem x-beliebigen Saufgelage zum Ferienende in Lauderdale, hatte der Journalist bemerkt, nur daß in Florida weniger Leute mit Fledermausflügeln und Streitäxten herumliefen.
Sie ritten aus dem Diebesviertel hinaus und die kopfsteingepflasterte Straße der kleinen Götter hinunter. Orlando machte bewußt einen großen Bogen um den Palast der Schatten. Die PdS-Leute waren für seine Begriffe keine richtigen Spieler – sie schienen nie wirklich was zu tun. Sie hingen bloß zusammen rum und feierten Feten, machten sich als Vampire oder Dämonen zurecht und trieben reichlich Softsex und andere Sachen, die sie für dekadent hielten. Orlando fand sie im großen und ganzen ziemlich peinlich. Aber wenn man sich auf ihr Territorium verirrte, mußte man allen möglichen Blödsinn abkaspern, um wieder rauszukommen. Sie hatten ziemlich am
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